Nordwest-Zeitung

Boris Johnsons Märchenstu­nde

Wie der britische Premiermin­ister die Pandemie wegredet – trotz drastisch hoher Zahlen

- Von Larissa Schwedes

London – Wer Boris Johnson zuhört, kann den Eindruck bekommen, im Vereinigte­n Königreich sei alles in Ordnung. Die Corona-Daten gäben keinen Anlass zur Sorge, meint der britische Premiermin­ister, keinen Anlass für „Plan B“, der seit Monaten in der Schublade liegt, aber dort auch bleiben soll. Die Inzidenz liegt währenddes­sen bei um die 400, also noch höher als in Deutschlan­d, wo die Alarmglock­en fast lauter schlagen als je zuvor.

Dass die Delta-Variante die Fallzahlen in Deutschlan­d, Österreich und anderen Ländern in bislang ungekannte Höhen getrieben hat, ist auch in der Downing Street nicht unbemerkt geblieben. So warnte Boris Johnson vor einigen Tagen vor der Welle, die den Kontinent überrolle und von der noch niemand wisse, ob sie auch über die englische Küste schwappen werde.

Irreführen­d

„Das ist etwas irreführen­d“, sagt der Gesundheit­sexperte Azeem Majeed vom Imperial College London. Fakt ist nämlich: Seit Monaten ist die Situation auf der Insel um keinen Deut besser als in Europa – im Gegenteil. „Seit Juli hatten wir nie weniger als rund 30 000 Fälle pro Tag“, sagt Majeed. Erst kürzlich wurde Großbritan­nien von Ländern mit noch höheren Corona-Raten überholt. Zuletzt zählte man meist 40 000 bis 50 000 pro Tag. Der größte Unterschie­d zur Lage in Deutschlan­d ist: Es redet kaum noch jemand darüber.

Gerade im Ausland hat sich der Eindruck eingeschli­chen, die Briten seien mit ihrem „Freedom Day“Mitte Juli – der Aufhebung praktisch aller Corona-Maßnahmen – irgendwie durchgekom­men und das Schlimmste sei ausgeblieb­en. Doch das stimmt nur teilweise. Richtig ist, dass es eine Überlastun­g des Gesundheit­sdienstes NHS wie im vergangene­n Winter seitdem nicht gegeben hat. Gleichzeit­ig arbeiten Ärzte am Limit und die Warteliste­n für Operatione­n sind so lang wie nie. Zur Wahrheit gehört aber auch:

Seit Wochen zählt das Land Woche für Woche um die 1000 Corona-Todesfälle.

Unvorstell­bar

Selbst die für den Plan B vorgesehen­en Maßnahmen, an deren Einführung Johnson nicht denken will, sind alles andere als drastisch: Der Plan beinhaltet lediglich die Empfehlung, von zu Hause zu arbeiten, Masken in einigen Räumen und Impf- oder Testnachwe­ise für einige Großverans­taltungen. Nachweispf­lichten, in Deutschlan­d mittlerwei­le wie selbstvers­tändlich unter den Abkürzunge­n 3G, 2G und 2Gplus diskutiert, sind in England für viele unvorstell­bar.

Von der Impfquote her ist die britische Situation mit der deutschen vergleichb­ar: Knapp 69 Prozent der Bevölkerun­g sind doppelt geimpft, mit den Booster-Impfungen geht es schleppend voran. Ihr Effekt zeigt sich jedoch bereits im Altersverg­leich: Während die Positivrat­en in den älteren, bereits geboostert­en Gruppen eher niedrig sind, fallen sie unter Schulkinde­rn am höchsten aus.

„Plan B hätte schon vor einer ganzen Weile eingeführt werden sollen“, sagt Majeed. Doch die britische Regierung habe sich dafür entschiede­n, nicht präventiv zu reagieren, sondern frühestens dann, wenn es eigentlich schon zu spät sei.

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Dpa-BILD: Taylor Der britische Premier Boris Johnson steht Rede und Antwort im Unterhaus. Zur Pandemie ist seine Position klar: Alles ist in Ordnung.
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