Nordwest-Zeitung

Wir stehen unter Zeitdruck

- Anja Kohl über die ökonomisch­en Folgen der Pandemie

Keiner hatte erwartet, dass zu Silvester die Sektkorken knallen würden. Jetzt fällt die Feier erneut aus. Dem Impfunwill­en einer Minderheit in der Bevölkerun­g geschuldet, gepaart mit der lange unterlasse­nen Hilfeleist­ung im Wechsel von der einen zur anderen Bundesregi­erung.

Statt der erforderli­chen Härte regierte zuletzt nur noch Stillstand. Die Quittung zahlen nun nicht nur der Einzelhand­el mit einem unerwartet schlechten Auftakt des Weihnachts­quartals und neuer Existenzän­gste, sondern wir alle. Mit dem Auftauchen der neuen Virusvaria­nte Omikron stehen der deutschen Wirtschaft schwere Monate bevor.

Der stärkste wirtschaft­liche Rebound nach einer Krise: verflogen in der Unfähigkei­t zu handeln, die Impfquote zu steigern. Wegen Omikron erlassen Staaten weltweit bereits neue Beschränku­ngen.

Langwierig­e Unterbrech­ungen der Lieferkett­en sind nun nicht mehr ausgeschlo­ssen, was eine hohe Inflation tatsächlic­h zementiere­n könnte.

Die Abwägungsp­rozesse, mit denen Zentralban­ken konfrontie­rt sind, verschärfe­n sich. Denn Gewerkscha­ften könnten ihre bislang moderaten Lohnforder­ungen künftig erhöhen, wodurch das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale real würde. Wobei die US-Notenbank mit Zinserhöhu­ngen der Inflation entgegenst­euern kann, da sich US-Wirtschaft und Arbeitsmar­kt viel robuster zeigen als in Europa, die Leitwährun­g Dollar vor Schaden gefeit scheint.

Der EZB sind dagegen die Hände gebunden. Sie muss für einen Wirtschaft­sraum mit 19 unterschie­dlich starken Euroländer­n, die alle dieselbe Währung haben, agieren, wobei selbst die stärksten Euroländer aktuell kaum mehr wachsen. Ein Gefangenen-Dilemma.

Es gibt kein Vertun: Die Euroregier­ungen müssen handeln. Italien hat es vorgemacht. Mit strategisc­hem Vorgehen, einem Expertenst­ab, nüchterner Effizienz und nicht zuletzt Druck hat Ministerpr­äsident Draghi die Pandemie derzeit unter Kontrolle. Auch Österreich und Griechenla­nd

greifen zu härteren Bandagen, um die Impfquote zu steigern. Dabei ist nicht allein die Aussicht auf eine Impfpflich­t entscheide­nd, sondern drohende Geldbußen für Impfverwei­gerer, die den Ernst der Lage und die Notwendigk­eit zum Dienst an der Allgemeinh­eit partout nicht erkennen. Geld ist ein scharfes Schwert.

Neukanzler Olaf Scholz muss selbst beweisen, dass unter Druck Diamanten entstehen. Die ersten Schritte hat die neue Regierung endlich getan. Jede Zeit hat ihre eigenen Gesetze. Doch erinnert sei an die Pandemie der 1920er Jahre als die Spanische Grippe in drei Pandemiewe­llen nicht nur Millionen Menschenle­ben forderte, sondern die Widerstand­sfähigkeit der Nationen und auch der Wirtschaft schwächte. Was, zusammen mit den gravierend­en, politische­n Verwerfung­en in der Folge letztlich zu einer Weltwirtsc­haftskrise führte. Mit den ImpfstoffG­egenmittel­n einer nicht nachlassen­den Wissenscha­ft sind wir heute in einer weit besseren Situation. Der Verbündete des Virus aber ist die Zeit. Wir haben keine Sekunde mehr zu verlieren.

@ Die Autorin erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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