Jack London: Der Seewolf (1904)
Jack London hat während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gut zwei Dutzend Romane geschrieben. Der populärste ist auch sein bester: „Der Seewolf“
lief Anfang der 70er Jahre als Vierteiler im ZDF. Wie der Titelheld eine Kartoffel zerquetschte, ist den meisten Zuschauern unvergesslich geblieben – der philosophische Konflikt, den London hier verhandelt, dürfte weniger Eindruck hinterlassen haben.
Dabei sind diese beiden Protagonisten Wolf Larsen und Humphrey van Weyden plakativ genug: Muskelprotz kontra Schöngeist, Materialismus kontra Idealismus, Sozialdarwinismus kontra Humanismus, Friedrich Nietzsche kontra Jack London.
Folgerichtig unterliegt der Nietzscheaner Larsen am Ende dem Londoneaner van Weyden, freilich ohne dass jener seiner rücksichtslosen Gesinnung abschwört, und erst nachdem dieser sich einige Überlebensstrategien von ihm abgeschaut hat. Dass sich viele Passagen als Jugendlektüre eignen, spricht nicht gegen den Roman; es spricht allerdings für Jack Londons Talent, abstrakte Problemstellungen in konkrete Szenen aufzulösen, die er gekonnt mit Spannung auflädt.
Und da befindet er sich in bester Gesellschaft: Daniel Defoe, Robert Louis Stevenson und Herman Melville wurden ähnlich klassifiziert und sogar „für die Jugend bearbeitet“– was mir schon als Jugendlichem den Spaß an diesen großen Romanen fast verdorben hätte.
Und noch etwas hat „Der Seewolf“mit „Robinson Crusoe“, der „Schatzinsel“und „Moby Dick“gemeinsam: Die Bretter, die hier die Welt bedeuten, sind Schiffsplanken, und die Romane beziehen daraus immer noch viel von ihrer Attraktivität – auch wenn Segelschiffe heute längst durch Sternenkreuzer ersetzt worden sind – zumindest in der Literatur. Aber auch Science Fiction wird ja erst da interessant, wo philosophische Fragen im Weltraum stehen.
Das Buch: Jack London: Der Seewolf (1904). Die Kolumne „Ein Jahrhundert – 100 Bücher“erscheint regelmäßig exklusiv in dieser Zeitung. Alle Folgen zum Nachlesen sind zu finden unter
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