Ostthüringer Zeitung (Bad Lobenstein)
Riexinger attackiert Grüne
Kretschmann sei ein „grauer Oberlehrer“
Berlin. Die Führung der Linkspartei hat in scharfer Form auf Kritik des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) reagiert. „Offenbar lebt Kretschmann in einer anderen sozialen Realität als der Großteil der Menschen“, sagte der LinkeVorsitzende Bernd Riexinger dieser Zeitung. In einem „klassischen Fall von Aggressionsverschiebung“greife Kretschmann jetzt SPD und Linke an, nachdem die Grünen auf das falsche Pferd gesetzt hätten. „Der Dauerflirt mit der CDU und die Hoffnung auf eine schwarz-grüne Bundesregierung erweisen sich als wahltaktischer Fehler für die ehemalige Umwelt- und Menschenrechtspartei.“
Kretschmann hatte dieser Zeitung gesagt, die Linken seien „kaum regierungsfähig“. Riexinger erklärte: „Soziale Gerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, höhere Löhne, Renten und eine Kindergrundsicherung sind die besten Garantien für eine starke Gesellschaft, Wachstum und Demokratie“. Aufrüstung und Kriege unter Beteiligung der Bundeswehr seien desaströse Rezepte von gestern. „Das muss auch der graue Oberlehrer aus dem Ländle begreifen.“(ck) Karlsruhe. Es ist ein ungewöhnlicher Schritt, den Deutschlands höchster Richter in einem seiner seltenen Interviews geht: Andreas Voßkuhle spricht nicht nur über rechtliche Fragen, die Deutschland betreffen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts schaltet sich auch in die internationale Politik ein. Voßkuhle ist alarmiert über die Entwicklung in der Türkei – und fürchtet um die amerikanische Demokratie. Vorstellungen, wie sie auch bei US-Präsident Donald Trump zum Ausdruck kommen, „führen schnell in totalitäre Systeme, wie wir Deutschen aus der eigenen Geschichte wissen“.
Zur Bundestagswahl zeichnet sich ein Wahlkampf um Gerechtigkeit ab. Ist Deutschland ein ungerechtes Land, Herr Voßkuhle?
Andreas Voßkuhle: Was gerecht oder ungerecht ist, lässt sich objektiv nur schwer oder gar nicht bestimmen. Wir müssen uns aber sicherlich die Frage stellen, wie zukünftig der Wohlstand, den wir gemeinsam erwirtschaften, verteilt werden soll. Seit Jahren beobachten wir den Trend, dass sich das Vermögen in Deutschland auf immer weniger Menschen konzentriert. Ich kann nachvollziehen, dass diese Entwicklung viele für ungerecht erachten.
Als ungerecht haben manche auch die Agenda 2010 der rotgrünen Bundesregierung unter Kanzler Schröder empfunden. Halten Sie weitere Korrekturen für geboten?
Deutschland geht es gerade auch im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Mitgliedstaaten wirtschaftlich sehr gut. Dazu hat wahrscheinlich auch die Agenda 2010 beigetragen. Die damit verbundenen Reformen haben auch zu Härten und Einschnitten geführt. Wie man diese Situation einschätzt, ist eine politische Entscheidung, zu der ich als Richter wenig sagen kann. Ich plädiere aber dafür, vorsichtig zu sein mit dem plakativen Begriff der Ungerechtigkeit. Ob etwas gerecht oder ungerecht ist, kann von verschiedenen Standpunkten aus unterschiedlich beurteilt werden. Deshalb muss im politischen Prozess um als gerecht empfundene Lösungen gerungen werden.
Nach der Bundestagswahl könnten mehr als 700 Abgeordnete im Bundestag sitzen, obwohl es eigentlich nur 598 sein sollen. Ursache ist die Reform des Wahlrechts, die auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurückgeht. Haben Sie dem Gesetzgeber falsche Vorgaben gemacht?
Sie dürfen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht allein aufgrund der politischen Auswirkungen bewerten. Unser Maßstab ist das Grundgesetz. In dem konkreten Verfahren hatten wir über das Problem des negativen Stimmgewichts zu entscheiden. Wenn eine gesetzliche Regelung dazu führt, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für solche Parteien, die Überhangmandate gewinnen, negativ wirken, verletzt das die verfassungsrechtlich verbürgten Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Es ist nunmehr Aufgabe des Gesetzgebers, das Wahlrecht zu reformieren. Die hierbei auftretenden Schwierigkeiten sind nur zu einem kleineren Teil auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen ... ... und zu einem größeren Teil auf die Unfähigkeit der Politik? Gegenwärtig liegt der Ball im Feld des Gesetzgebers. Wir haben lediglich die Leitplanken gesetzt. Die politischen Verantwortlichen haben nun verschiedene Möglichkeiten, unseren Vorgaben zum Wahlrecht Rechnung zu tragen. Auf manche möchte man sich aber nicht einigen, weil man Sorge hat, dass sie für die eigene Partei von Nachteil sind. Die Bundestagswahl findet nun wohl auf der Basis eines unzulänglichen Wahlrechts statt.
Ich habe Verständnis dafür, dass man es sich nicht leicht macht, wenn es um die eigene politische Existenz und Handlungsfähigkeit geht. Gleichwohl sollte ein Konsens gefunden werden, da ein 700 Abgeordnete umfassender Bundestag weder im Interesse der Parteien und der Politik noch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sein kann. Schon die praktische Frage, wo die zusätzlichen 100 Abgeordneten mit ihren Mitarbeitern unterkommen können, ist nicht trivial. Ich persönlich hätte mich daher mit dem Bundestagspräsidenten gefreut, wenn man sich vor der anstehenden Bundestagswahl auf neue Regeln verständigt hätte.
Wahlkampf wird in Deutschland auch für die türkische Verfassungsreform gemacht, die weitreichende Befugnisse für Präsident Erdogan vorsieht. Haben Politiker aus der Türkei einen Anspruch darauf, Kundgebungen in Deutschland abzuhalten?
Es liegt im außenpolitischen Ermessen der Bundesregierung, solche Auftritte von türkischen Staatsorganen zuzulassen oder sie zu verbieten. Türkische Politiker, die in ihrer amtlichen Eigenschaft in Deutschland auftreten, können sich nicht auf Grundrechte berufen. Wird ihnen seitens der Bundesregierung – ausdrücklich oder stillschweigend – eine Zustimmung erteilt, müssen sie sich bei ihren Auftritten an unsere Rechtsordnung halten.
Türkische Politiker werfen der Bundesregierung Nazi-Methoden und Terrorunterstützung vor. Muss sich Deutschland das bieten lassen?
Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass in Wahlkampfzeiten gerne provokante Formulierungen benutzt werden. Insoweit darf man sicherlich nicht überempfindlich sein. Es gibt aber eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf. Ich kann die Bundesregierung deshalb gut verstehen, wenn sie deutlich macht, dass sie diese Nazi-Vergleiche nicht weiter akzeptiert. Wir Deutschen sind es gerade den Opfern der nationalsozialistischen Diktatur schuldig, keine leichtfertigen Vergleiche zuzulassen.
Viele, die in deutschen Städten den türkischen Präsidenten bejubeln, haben einen deutschen und einen türkischen Pass. Halten Sie Korrekturen am Staatsbürgerrecht für angebracht?
Die doppelte Staatsbürgerschaft ist rechtlich eine komplizierte Konstruktion, über die immer wieder diskutiert wird. Probleme können sich insbesondere ergeben, wenn nicht klar ist, zu welchem Land man eigentlich gehört und gehören möchte. Deshalb versucht man zu Recht, die Möglichkeiten zur Erlangung der doppelten Staatsbürgerschaft auf Ausnahmen zu beschränken.
„Ein 700 Abgeordnete umfassender Bundestag kann weder im Interesse der Parteien noch im Interesse der Bürger sein“
Wie bewerten Sie den Fall des deutsch-türkischen „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel, der seit Wochen in türkischer Untersuchungshaft sitzt?
Eine freie Berichterstattung wird in der Türkei zunehmend schwieriger. Insgesamt muss uns die Entwicklung in der Türkei mit Sorge erfüllen. Eine Demokratie ist Herrschaft auf Zeit und zeichnet sich zentral dadurch aus, dass die Minderheit die Chance haben muss, zur Mehrheit zu werden. Das setzt die