Ostthüringer Zeitung (Bad Lobenstein)
„Wir erleben dramatische Entwicklungen“
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sorgt sich um die Türkei – und um das Amerika von Donald Trump
Möglichkeit der offenen politischen Auseinandersetzung voraus, die von Grundrechten wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit gewährleistet wird. Werden diese Rechte übermäßig eingeschränkt, schnürt das – so die historische Erfahrung – der Demokratie die Luft ab.
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Nach meiner Wahrnehmung erleben wir dramatische Entwicklungen. Dass Richter, Staatsanwälte und Wissenschaftler ohne ein geordnetes rechtsstaatliches Verfahren massenhaft entlassen werden, hätten wir uns in einem Land, das Mitglied der Nato ist, kaum vorstellen können. Ganz abgesehen davon werden diese Maßnahmen zu einem existenziellen „intellektuellen Aderlass“führen mit gravierenden Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des privaten und öffentlichen Sektors für viele Jahrzehnte.
Sorgen um den Rechtsstaat gibt es neuerdings auch in den USA. Präsident Trump pflegt auf missliebige Gerichtsentscheidungen – etwa zu dem Einwanderungsstopp für viele Muslime – mit wütenden Tweets zu reagieren. Er spricht von einem „sogenannten Richter“und einer „nie dagewesenen Überregulierung durch die Justiz“. Wie deuten Sie das? Wir sind am Bundesverfassungsgericht ebenfalls sehr irritiert angesichts der Schärfe dieser Formulierungen und das dadurch zum Ausdruck gebrachte Rechtsstaatsverständnis. Die Unabhängigkeit der Justiz ist eines der wertvollsten Güter unserer modernen Demokratien. Wer hier die Axt anlegt, der verabschiedet sich von der großen Idee eines freiheitlichdemokratischen Verfassungsstaates. Wer soll denn bitte sonst die Einhaltung der Verfassung und des durch die Parlamente gesetzten Rechts überprüfen – etwa die Regierung selbst? Insgesamt wird durch diese Äußerungen eine Geringschätzung des Rechtsstaats und der Justiz offenbar. Es wird auf einfache Lösungen gesetzt. Es gilt das Prinzip: Die Mehrheit hat immer recht. Solche Vorstellungen führen schnell in totalitäre Systeme, wie wir Deutschen aus der eigenen Geschichte wissen.
Fürchten Sie ernsthaft um die amerikanische Demokratie? Die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten müssen uns zutiefst beunruhigen. Hinzu kommen der derzeit schlechte Zustand der Europäischen Union und Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz in Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn und zuletzt auch Frankreich. Aktuell wird vieles, was wir als selbstverständlich angesehen haben, infrage gestellt. Wir müssen sehr wachsam sein, dass diese Entwicklungen keine ansteckende Wirkung entfalten.