Ostthüringer Zeitung (Bad Lobenstein)
„Ich vermisse den Blick nach vorn“
Industriepräsident Dieter Kempf über den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz – und was er deutschen Unternehmen rät
entwickeln?
Wir bleiben bei unserer Vorhersage: Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr um 1,5 Prozent wachsen. Damit entstehen in unserem Land rund 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Das ist aber kein Grund, sich zurückzulehnen. Wir profitieren von einem derzeit günstigen EuroKurs, historisch niedrigen Zinsen und günstigen Ölpreisen. Wenn diese Faktoren nicht mehr wirken, kann unser Konjunktur-Kartenhaus in sich zusammenfallen. Doch die Politik verteilt lieber, als dass sie investiert. Hat sich die große Koalition in den vergangenen vier Jahren für eine weitere Amtszeit empfohlen?
Ich vermisse in der großen Koalition den Blick nach vorn. Wer auch immer ab September am Ruder sitzt: Investitionen zu fördern und unsere Wirtschaft bei der digitalen Transformation zu unterstützen – das muss das vorrangige Ziel dieser Regierung werden. Für Gift halte ich die Forderung der Grünen, die Vermögensteuer wieder einzuführen. Der Wohlstand in Deutschland stützt sich auf familiengeführte, mittelständische Unternehmen. Wenn sie die Lust verlieren zu investieren – dann gute Nacht! Das würde unsere Wirtschaftsleistung ganz enorm beeinträchtigen. Auch der SPDKanzlerkandidat setzt mit seinen arbeitsmarktpolitischen Vorschlägen den falschen Fokus.
Was ist falsch daran, auf mehr Gerechtigkeit zu setzen?
Es ist falsch, die Arbeits- und Sozialpolitik in erster Linie an den Älteren auszurichten. Was uns in Deutschland vor allem beschäftigen muss, ist die junge Generation. Davon dürfen wir keinen verlieren. In Berlin beispielsweise entlassen wir rund acht Prozent der Schüler ohne Abschluss in die Welt. Eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I löst dieses Problem nicht. Die Politik muss massiv in Bildung investieren.
Bleibt da Spielraum für Steuersenkungen?
Über den Spitzensteuersatz brauchen wir nicht zu streiten. Schwierig wird es bei der kalten Steuerprogression. Den sogenannten Mittelstandsbauch abzuflachen, würde aber 20 bis 30 Milliarden Euro kosten. Eine Steuerentlastung, die Milliarden kostet, führt beim Einzelnen häufig nur zu Cent-Entlastungen. Das wahre Problem ist die Sozialversicherung. Die Bürger zahlen hohe Beiträge bei gleichzeitig steigenden Überschüssen in den Sozialkassen. Daher ist meine Forderung klar: Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge, wo immer möglich.
„Kein Unternehmen sollte alle Eier in einen Korb legen.“
Die deutsche Industrie verlangt keine Reduzierung der Steuern?
Genau – wichtiger fürs Wachstum von morgen sind Investitionen und Steuerstrukturreformen insbesondere für Unternehmen. Da muss die nächste Regierung ran. Das muss finanzierbar sein. In Dänemark etwa wurde das Steuersystem durch Typisierungen und Pauschalierungen deutlich vereinfacht. Zum Beispiel könnten wir einen höheren Werbungskosten-Pauschbetrag ansetzen statt Belege für jedes Fitzelchen. Dann würde sich auch die Diskussion um das von den Deutschen so wahnsinnig geliebte Kilometergeld erübrigen.