Im Lager der Verzweifelten
im Lager. Menschen flohen auf die umliegenden Hügel, einige transportierte die Polizei in andere Lager.
Abraham sagt, es habe eine Demonstration im Lager gegeben. Es gab Gerüchte über Abschiebungen in die Türkei, so erzählen es auch andere. „Das ging gut, bis ein paar Leute den friedlichen Protest gebrochen haben“, berichtet ein Afghane. Erst flogen Steine, dann brannten Mülltonnen. Später Dutzende Zelte. Erst machten Polizisten wenig, dann schossen sie Tränengas.
Nicht zum ersten Mal bricht Feuer in dem Lager aus. Nicht zum ersten Mal gehen Männer aufeinander los. Und niemanden hier überrascht das.
„Es fehlt an Sicherheit in diesem wie in vielen anderen Lagern. Wir haben immer gefordert, die Sicherheit zu erhöhen. Und es fehlt an klaren Angaben für die Flüchtlinge, wann sie wie Asyl beantragen können und wie lange die Fristen sind“, sagt Roland Schönbauer vom UNFlüchtlingshilfswerk.
Vor mehr als einem Jahr begann Europas große Flüchtlingskrise mit Bildern von sinkenden Schlauchbooten. Im März sollte ein Abkommen zwischen EU und Türkei für Ordnung sorgen. Jeder, der irregulär nach Griechenland reist und kein Recht auf Asyl hat, soll abgeschoben werden. Dafür nimmt die EU Syrer aus der Türkei auf. Europa will Asylverfahren beschleunigen und Flüchtlinge gerecht verteilen. Das ist die Theorie.
Von der Praxis erzählt Suhail, ein Mann aus Pakistan, Ende 40 und Arzt. „Jeden Tag gibt es Makkaroni oder Reis.“Viele schlafen auf dünnen Decken, vor dem Registrierungszentrum diskutieren Flüchtlinge mit Beamten, sie trennt ein meterhoher Zaun. Suhail lebe schon sechs Monate im Zelt auf Lesbos, sagt er.
Seitdem die Balkanroute geschlossen ist und der Pakt mit der Türkei gilt, kommen deutlich weniger Menschen per Schlauchboot nach Griechenland. Doch die Insel ist voll, denn die Griechen schicken die Flüchtlinge nicht mehr einfach weiter auf das Festland. Registrierung, Fingerabdrücke, Anhörung, Asylverfahren – das alles soll sich jetzt hier entscheiden. Seit März sind laut griechischem Innenministerium 46 Syrer freiwillig zurückgegangen in die Türkei. Fast alle legen gegen Abschiebung vor Gericht Widerspruch ein. Die EASO, die Europäische Asyl-Agentur, hilft den griechischen Beamten. Gemeinsam mit dem UNHCR registrierten sie im Sommer 28 000 Flüchtlinge, eine Art Vorsortierung, damit die Griechen schneller arbeiten können. 700 EUBeamte sind in Griechenland – doch das sei nur ein Teil der versprochenen Hilfe, klagt die Regierung in Athen. Flüchtlinge wie Abraham und Suhail treffen auf ein geschwächtes Europa – ins Wanken gekommen durch den Brexit, zerstritten in der Asylpolitik. Von den 160 000 Menschen, die aus den Camps in Griechenland in die EU verteilt werden sollen, sind nicht einmal 5000 umgezogen.
Manche fragen die Beamten im Camp fast jeden Tag: „Wann bekomme ich meine Asylanhörung?“Die Antwort sei fast immer dieselbe: „Warten Sie!“Und viele, wie der Pakistaner Suhail, wollen gar kein Asyl in Griechenland. Er fragt gar nicht erst nach einem Termin. Er will keinen griechischen Stempel in seinem Pass, sondern ans Festland und weiter nach Portugal. Die EU hat eine vage Vorstellung, wie sie die Menschen auf dem Kontinent verteilen will. Doch die haben oft ihre eigenen Ideen von einem Leben in Europa.
Pakistan sei ein gutes Land, sagt Suhail, er hatte eine gute Arbeit, Frau und Kind. Bis ihn eines Tages der Geheimdienst vorwarf, er behandle die falschen Leute – Terroristen. Nach dem vierten Besuch der Agenten floh Suhail. Jetzt arbeitet er für den Imbissbesitzer am Camp, kellnert, übersetzt für zehn Euro am Tag. Er zückt einen Zettel. „Molyvos“hat er sich notiert, ein Dorf im Norden der Insel. Von dort starten Fischerboote jeden Morgen ihre Tour. Suhail will den Fischern ein Angebot machen: Geld gegen eine heimliche Fahrt nach Athen. „Das ist meine letzte Option“, sagt er.