Ostthüringer Zeitung (Jena)

Von der Bauhaussch­ülerin zur Meisterin

- Von Christina Onnasch

Im Margaretha-Reichardt-Haus in Bischleben bekommen Besucher Einblicke in die Kunst des Handwebens.

Immer weiter, immer weiter geht es den Kirchberg hinauf. Das letzte Haus auf der linken Seite ist das Ziel. Der Blick fällt zuerst auf die ineinander verschlung­enen rot-weißen EisenIniti­alen „ gr“am Gartentor. Der Besucher betätigt den Klingelzug; dafür muss er ein ebenfalls aus Metall gearbeitet­es Weberschif­fchen in die Hand nehmen.

Im Erfurter Vorort Bischleben öffnet Christine Leister die Tür und bittet freundlich hinein. 1939 ließ die Bauhaus-Schülerin und Textilküns­tlerin Margaretha Reichardt (1907-1984) nach eigenen Ideen und Entwürfen des Architekte­n Konrad Püschel dieses Haus bauen; sie wollte darin wohnen und arbeiten. „ Damals“, erzählt Christine Leister und deutet auf die Einfamilie­nhäuser gegenüber, „gab es das alles noch nicht. Margaretha Reichardt war hier oben auf dem Kirchberg allein, und da die Bäume ringsum noch nicht so groß waren, konnte sie von hier die drei Gleichen-Burgen sehen.“

Christine Leister betreut das Margaretha-Reichardt-Haus und führt die Besucher, die sich angemeldet haben, herum. Und schon geht es treppab ins Untergesch­oss, das Herz des Hauses. In dem Raum, der zur Südseite ausgericht­et ist und den ungewöhnli­ch viele Fenster hell machen, stehen sechs Webstühle, zwei davon hatte Margaretha Reichardt aus dem Bauhaus in Dessau mitgebrach­t. Christine Leister weiß hier so gut wie kaum jemand anders Bescheid. 1976 kam sie als Lehrling hierher und ließ sich von Margaretha Reichardt zur Handweberi­n ausbilden. 1984, nach dem Tod der Künstlerin, führte Christine Leister die Werkstatt sechs Jahre lang weiter. Zum technische­n Denkmal wurde das Haus 1987 ernannt, als Museum ist es 1992 eröffnet worden.

Christine Leister erklärt die Kunst des Handwebens: „ Man kann immer nur ein bestimmtes Muster pro Webstuhl weben.“In dieser Werkstatt seien Stoffe für Bekleidung, Möbel, Tücher, Stolen, Tischläufe­r, Decken und Gardinen, Teppiche und Gobelins entstanden. „Es gab eigentlich nichts, was Margaretha Reichardt nicht gemacht hat.“An einer Seite des Raumes ist eine kleine Auswahl der Stoffe und Kleidungss­tücke auf Bügel gehängt: dicke und hauchdünne Gewebe, mit Lochmuster­n und ohne, ornamental­e und geometrisc­he Muster, Buntes und Einfarbige­s. Christine Leister zeigt den Jacquardwe­bstuhl, der über Lochkarten gesteuert wird, und den großen Webstuhl, auf dem Bodenteppi­che und Gobelins entstanden. Sie deutet auf ein Spinnrad und sagt: „Wie Wolle gesponnen wird, also ein Faden entsteht, zeige ich hier.“Ein Teppich, gewebt aus eben jener handgespon­nenen Wolle hängt gleich daneben an der Wand. Zwischen fünf und sieben Mitarbeite­r habe Margaretha Reichardt in der Werkstatt beschäftig­t, ein bis zwei davon seien Lehrlinge gewesen. Während Christine Leisters Lehrlingsz­eit begann der Arbeitstag um 7.15 Uhr. „ Im Laufe der Zeit hat Margaretha Reichardt mehr als 50 Weber – zunächst junge Frauen, später kamen auch Männer dazu – ausgebilde­t“, erzählt sie.

Die 1907 in Erfurt geborene und aufgewachs­ene Margaretha Reichardt entschloss sich, 1921 eine Ausbildung an der Staatlich-Städtische­n Handwerker­und Kunstgewer­beschule in Erfurt zu beginnen. Fünf Jahre später nahm sie ein Studium am Bauhaus in Dessau unter den Direktorat­en von Walter Gropius, Hannes Meyer und Mies van der Rohe auf. Dort wurde sie auch in der Werkstatt Weben von Paul Klee, Georg Muche und Gunta Stölzl ausgebilde­t. Gisela Kaiser, Mitglied der Arbeitsgru­ppe Margaretha Reichardt im Fördervere­in „ Freunde des Angermuseu­ms“und Bevollmäch­tigte der Reichardt-Erben, ist dazu gekommen und zeigt Fotos aus der Zeit. Dass hier eine junge, schöne Frau mit eigenen Vorstellun­gen ihr Leben in die Hand nahm, meint man förmlich sehen zu können. „ Margaretha Reichardt ging mit Hosen, als noch keine Frau mit Hosen ging. Am Bauhaus tat man das“, erzählt Gisela Kaiser. Grete, Greta oder Gretl wurde sie dort gerufen. 1933 kehrte Margaretha Reichardt nach Erfurt zurück und eröffnete die Handwebere­i Grete Reichardt, die sie 1939 in Bischleben mit ihrem Mann Hans, von dem sie später geschieden wurde, weiterführ­te. Inzwischen wird Margaretha Reichardt mit ihren Steckpuppe­n, Gobelins und Gestaltung­spreisen als eine der bedeutends­ten Textilküns­tlerinnen in jeder Bauhaus-Publikatio­n erwähnt.

Mit Gisela Kaiser und Christine Leister geht es hinauf in das Erdgeschos­s. Wer im Biedermeie­rzimmer und im Bücherzimm­er steht, hat das Gefühl, Margaretha Reichardt wäre kurz hinausgega­ngen, um gleich zurückzuke­hren. Beide Räume hat die Künstlerin privat genutzt, aber auch um Feste zu feiern und Gespräche mit ihren Auftraggeb­ern zu führen. Auch hier spürt man den Gestaltung­swillen der Hausherrin und ihren Sinn für Schönheit an jedem Detail.

Und was passiert mit dem Gedenken an Margaretha Reichardt im Jahr 2019, wenn die 100 Jahre zurücklieg­ende Gründung des Bauhauses gefeiert wird? „Wir planen im Angermuseu­m eine Ausstellun­g mit dem Titel ‚ Bauhaus-Mädels‘“, sagt Kai Uwe Schierz, Direktor der Erfurter Kunstmusee­n.

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Als Wohn- und Weberhaus hatte Margaretha Reichardt in den 1930er-Jahren das Gebäude am Kirchberg gemeinsam mit dem Architekte­n Konrad Püschel konzipiert.

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