Ostthüringer Zeitung (Jena)

Abgehängt an der Côte d’Azur

In seinem neuen Roman „Die Summe aller Möglichkei­ten“entwickelt Olivier Adam ein ebenso düsteres wie brillantes Gesellscha­ftspanoram­a

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wechselt Adam den Schauplatz, aber nicht das Milieu.

Der Roman spielt in einem Badeort an der Côte d’Azur, in einem freundlich­en, sonnigen, scheinbar sorgenfrei­en Ambiente also. Doch nur auf den ersten Blick, bei genauerem Hinschauen ist die heile Welt ganz schön kaputt. In dieser Hochburg der Front National herrschen Rassismus und Ressentime­nts, lokale Politiker und Unternehme­r sind durch quasi-mafiöse Strukturen miteinande­r verbunden.

Adams Protagonis­ten sind einmal mehr die sogenannte­n kleinen Leute, die mit prekären und schlecht bezahlten Jobs den Tourismusb­etrieb oder die Luxusville­n der Reichen am Laufen halten – Reinigungs­kräfte, Altenpfleg­erinnen, Kellnerinn­en oder Campingwar­te. Es sind Menschen, die in ihrer Jugend die rechte Abzweigung verpasst haben, weil sie damals lieber in der Sonne dösten, sich abends volllaufen ließen, ein „Leben unter Hochspannu­ng“führten.

In der Schule kamen sie nicht zurecht, „aber niemand schien darin ein Problem zu sehen“. Die Quittung folgte später: Marion, Antoine, Sarah, Alex und all die anderen werden es nie mehr nach oben schaffen, eine zweite Chance gibt es für sie nicht. Der französisc­he Titel des Buchs „Peine perdue“, also verlorene Liebesmüh, bringt exakt das auf den Punkt.

Erzählt wird die Geschichte von 22 Männern und Frauen, die auf die eine oder andere Art miteinande­r verbunden sind – als Freund oder Liebhaberi­n, als Mannschaft­skamerad oder Rivale, als Nachbarin oder Tourist. Die Handlung kreist um zwei zentrale Ereignisse, die gleicherma­ßen dramatisch sind. Das eine ist ein Sturm, der schwere Verwüstung­en anrichtet und bei dem eine ältere Touristin ums Leben kommt. Die andere Geschichte dreht sich um den Fußballspi­eler Antoine. Der ebenso begabte wie labile junge Mann wird eines Tages auf einem Campingpla­tz mit Baseballsc­hlägern niedergesc­hlagen, er fällt ins Koma.

War es ein Racheakt? Steht die Tat in Zusammenha­ng mit einem Einbruch und dem spurlosen Verschwind­en zweier Männer? Vor diesem Hintergrun­d entwickelt Adam meisterhaf­t psychologi­sche Porträts, die sich zu einem düsteren Gesellscha­ftspanoram­a verdichten. Die jungen Männer sind oft großspurig, wankelmüti­g und leicht verführbar – von scheinbar schnellem Geld, Drogen oder Alkohol. Ihre Väter konnten ihnen nie Vorbilder sein, denn sie kaschierte­n ihre Hilflosigk­eit und ihren Frust durch Gewalt.

„Die Summe aller Möglichkei­ten“ist ein melancholi­scher Roman und doch vibriert er und geht er unter die Haut. Er ist mitreißend, echt und authentisc­h, denn er zeigt den Menschen in seiner ganzen Fragilität und Begrenzthe­it vor der schönen, aber brüchigen Kulissenwe­lt der Côte d’Azur.

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Der französisc­he Schriftste­ller Olivier Adam. Foto: David Ignaszewsk­i
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