Ostthüringer Zeitung (Pößneck)
„Unsere Leute haben Angst“
Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, Reinhard Schramm, über die umstrittene Antisemitismus-Dokumentation
der in Belgien und Frankreich zu Morden geführt hat und bei uns zu einem sehr starken Anwachsen antijüdischer Ressentiments. Wie kann man eine Komponente ausgrenzen? Es ist eine falsche Haltung, den muslimischen Antisemitismus aus der Betrachtung heraushalten zu wollen.
Sagen Sie das auch mit Blick auf Haltungen von Muslimen in Deutschland?
Ich verstehe, wenn Menschen, die Jahrzehnte unter dem Nahostkonflikt gelitten haben, wenig differenzieren. Das betrifft Juden wie Araber. Aber bei einseitiger Betrachtung entsteht ein Anti-Israelismus, der eindeutig zu Antisemitismus führt. Denn es wird nicht Israel verurteilt, sondern Juden. Und mit dieser Grundhaltung kommen viele Flüchtlinge nach Europa. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass durch beharrliche Bildung diese Voreingenommenheit abgebaut wird. In Frankreich wurde doch nicht die israelische Politik angegriffen, sondern Synagogen und Juden. Und in Deutschland richten sich bei Anti-Israel-Demonstrationen Hasstiraden gegen uns deutsche Juden und es wurde gegen unsere Synagogen vorgegangen.
Müssen wir das im Diskurs über Integration stärker thematisieren? Ich würde die Flüchtlinge nicht in den Vordergrund schieben. Man darf keine der drei Komponenten vernachlässigen, weder die rechte, noch die muslimische, noch die linke. Die Komplexität des Themas muss verstanden werden. Welche Szene im Film hat sie besonders bewegt?
Das Auftreten von Palästinenserpräsident Abbas im EU-Parlament, wo er uralte antijüdische Klischees bedient hat, und der Applaus der Abgeordneten. Wir wissen doch, wozu solche Klischees in der Vergangenheit geführt haben. Ganze jüdische Gemeinden sind unter dem Vorwurf der Brunnenvergiftung ausgelöscht worden. Im Europäischen Parlament wurde das Mittelalter beklatscht, das finde ich schrecklich.
Der Historiker Michael Wolffsohn lobt den Film, weil er deutlich mache dass eine Trennung von Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik künstlich sei. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe vor allem, dass es angesichts des wachsenden Antisemitismus viel Zukunftsangst in den jüdischen Gemeinden gibt. Reinhard Schramm Sie brauchen eine Sicherheit, und das ist im Ernstfall nur der Staat Israel. Ich habe immer gesagt, wäre dieser Staat zehn Jahre eher gegründet worden, hätte ich vielleicht noch eine Großmutter erlebt oder einen Onkel.
Im Film sprachen Juden aus Frankreich darüber, keine Zukunft im Land zu sehen. Wie erleben Sie die Stimmung in der Gemeinde?
Wir fühlen eine politische Atmosphäre, die in Thüringen weitgehend gut ist. Aber viele unserer Mitglieder fürchten, dass dies am Ende das Wachsen antijüdischer Vorbehalte nicht aufhalten wird. Schon heute trauen sich Juden, die eine Kippa tragen wollen, nicht, mit ihr durch die Stadt zu gehen. Sie haben Angst, und die ist der gegenwärtigen Situation in Deutschland und Europa geschuldet. So lange die Politik nicht entschieden dagegen vorgeht, so lange gibt es Zukunftsängste, denen ich oft nichts entgegensetzen kann. Sollte das anhalten, kann ich verstehen wenn junge Juden Deutschland verlassen werden. Wenn es der Politik an Sensibilität mangelt, befürchte ich eine solche Entwicklung.
Was genau meinen Sie mit fehlender Sensibilität in der Politik?
Zum Beispiel die Einseitigkeit der Kritik an Israel, auch seitens mancher Politiker. Es geht nicht darum, israelische Politik zu loben. Sondern darum, dass man alles zurückweist, was die Existenzberechtigung des israelischen Staates infrage stellt und dass Leute nicht unterstützt werden, die das tun. Die Bedrohung Israels ist die Bedrohung jüdischen Lebens. Diese Verunsicherung sollte man unseren Gemeinden ersparen.
Netanjahu hat den Bau einer neuen Siedlung angekündigt. Können Sie verstehen, wenn Menschen in Deutschland israelische Siedlungspolitik kritisieren?
Das kritisieren auch viele Juden, in Israel und in Deutschland. Ich verstehe die Kritik und ich verstehe auch Ängste der Palästinenser. Aber das heißt doch nicht, dass man den Antisemitismus in Deutschland nicht als komplexes Problem betrachten muss. Noch einmal: Das Wegdrücken des muslimischen Anteils finde ich falsch.
Antisemitismus unter dem Deckmantel von Israel-Kritik – wie nehmen Sie das wahr?
Ich bekomme selber rechtsextremistische Briefe, in denen sich die Absender auf die Situation in Nahost berufen. Wir haben in Thüringen Kinder, die wegen des muslimischen Antisemitismus Probleme in der Schule haben.
Welche Vorfälle sind das?
Sie werden als jüdische Kinder direkt oder indirekt mit verantwortlich für israelische Politik gemacht. Es gab an zwei Schulen solche Vorfälle, bei denen ich mich persönlich eingeschaltet habe. Ich möchte aus Rücksicht auf die Betroffenen nicht konkret werden. Es sind Einzelfälle, aber so etwas hat es noch vor wenigen Jahren nicht gegeben.