Ostthüringer Zeitung (Pößneck)
Hoch hinaus mit Transrapid-Technik
ThyssenKrupp plant einen Aufzug ohne Seil, der auch waagerecht fährt. Ein erstes Projekt ist für Berlin vorgesehen
einem sogenannten Linearmotor, ein Magnetfeld zieht die Kabinen. Die Schienen lassen sich an bestimmten Stellen des Systems, sogenannten Exchangern, um 90 Grad drehen, sodass die Kabinen dann waagerecht fahren können. Beim Multi bewegt sich zudem nicht nur eine Kabine pro Schacht auf und ab, stattdessen zirkulieren viele Kabinen unabhängig voneinander.
„Wir sind durch diese Innovationen nun in der Lage, unsere Industrie voranzubringen und zu transformieren“, sagt Andreas Schierenbeck, Chef der Aufzugsparte von ThyssenKrupp. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebe in Städten – und der Trend werde sich fortsetzen. Die Zahl der Hochhäuser werde also steigen. Die Multi-Technologie benötige weniger und kleinere Schächte als konventionelle Systeme. Das bedeutet: Es bleibt mehr Platz für Wohn- und Büroraum, was die Gebäudeentwickler und Investoren freut.
Auch Wartezeiten an den Aufzügen will ThyssenKrupp verringern. Mithilfe des Multi können im Vergleich zu klassischen Anlagen nach Angaben des Unternehmens bis zu 50 Prozent mehr Menschen transportiert werden. Zudem kommt das System mit weniger Fläche aus und verbraucht weniger Strom. Und: Anders als für seilgetriebene Aufzüge gibt es keine technische Höhengrenze für Multi. Bei gut 600 Metern Schachthöhe ist bisher Schluss – das Seil würde zu sehr schwingen oder wegen seines Gewichts reißen.
Ganz so hoch ist das erste Gebäude, in dem der neuartige Aufzug fahren soll, nicht. Das niederländische
Immobilienunternehmen OVG Real Estate plant im Berliner Bezirk Friedrichshain den 140 Meter hohen East Side Tower. Der Turm soll rund 300 Millionen Euro kosten und bereits 2020 fertig sein. OVGChef Coen van Oostrom freut sich schon auf die Zusammenarbeit. „Wir beschäftigen uns konsequent mit intelligenten
Technologien und Nachhaltigkeit und sind dadurch anderen stets einen Schritt voraus. Die zukunftsweisende Technologie, für die der Multi steht, passt hervorragend zu uns“, sagt er.
Noch fährt Multi in Rottweil nur im Testbetrieb, selbst Menschen dürfen noch nicht einsteigen. Der TÜV muss das System erst abnehmen, bevor es dann vertiefte Tests geben kann. Die Anlage hat ThyssenKrupp allerdings nicht nur für Multi gebaut. Dort prüft der Konzern auch weiter konventionelle Aufzüge. Zwölf Schächte hat der Turm, untersucht werden können auch Hochgeschwindigkeitsaufzüge, die mit bis zu 18 Metern pro Sekunde unterwegs sind. Für Multi sind drei Schächte reserviert.
Schierenbeck nennt das System die „Neuerfindung des Aufzugs“. Er glaubt, dass die neue Technologie das alte Seilsystem ablösen wird. Das wäre für die Konzernsparte äußerst positiv, auch in finanzieller Hinsicht. „Eine Reihe von Jahren waren wir eher nicht bekannt für Innovationen“, sagt der ThyssenKrupp-Spartenchef. „Wir haben dann angefangen, genau zu schauen, welche Technologien für die Zukunft urbaner Mobilität Erfolg versprechend sind.“
„Zwei bis vier Prozent unseres jährlichen Umsatzes gehen in Forschung und Entwicklung“, berichtet Schierenbeck. Die Entwickler sollen „ausdrücklich auf den ersten Blick verrückte Sachen“ausprobieren, sagt Schierenbeck. „Dabei ist völlig okay, wenn die Hälfte der Projekte wieder eingestellt wird. Aus den anderen 50 Prozent können revolutionäre Entwicklungen wie der Multi entstehen.“
In der Aufzugsparte arbeiten mehr als 50 000 ThyssenKruppBeschäftigte – etwa jeder dritte Mitarbeiter. In der Stahlsparte sind es rund 27 000. Im vergangenen Geschäftsjahr trug die Aufzugsparte mit einem operativen Ergebnis von 860 Millionen Euro weit mehr als die Hälfte zum Konzerngewinn bei.