Ostthüringer Zeitung (Rudolstadt)
Kein Einser-Abitur für Studium notwendig
Nathalie Scheibner: Ich finde die Argumentation von Leoni Riedel zwar schlüssig, kann sie allerdings aus meiner eigenen Erfahrung nicht nachvollziehen. Mein Abitur ist zwar schon sieben Jahre her, aber davon, dass mein Leben völlig auf die Schule fokussiert war, kann keine Rede sein. Stattdessen habe ich – meine ehemaligen Lehrer mögen es mir nachsehen – kaum Hausaufgaben gemacht, praktisch nie gelernt und regelmäßig geschwänzt. Damit war ich in meinem Freundeskreis übrigens kein Einzelfall. Dass auch unter der Woche länger gefeiert wurde, war keine Seltenheit, und trotzdem habe ich mein Abitur ohne Probleme bestanden. Es stand zwar keine Eins vor dem Komma, aber war doch ein ordentlicher Zweierschnitt. Denn gerade in der Oberstufe kommt man doch gut hin, ohne alles auswendig zu lernen. Vielleicht lag es an meiner Fächerkombination, aber fast immer kam man mit logischem Denken und guter Verarbeitung der vorgegebenen Quellen gut aus.
Man sollte aus meiner Sicht als junger Mensch einfach leben. Für mich war die Oberstufe die (bisher) schönste Zeit des Lebens. Für ein vernünftiges Studium braucht man doch nicht unbedingt ein 1,0-Abitur. Und spätestens an der Uni interessiert der Abi-Schnitt sowie niemand mehr. unerwartet an die Tafel gerufen zu werden und nicht vorbereitet zu sein; nie wieder Absurditäten wie Programmieraufgaben in Informatik, für die wir die Grundlagen nicht im Unterricht vermittelt bekommen hatten, die jedoch 50 Prozent der Halbjahresnote ausmachten, sodass die meisten Mitschüler sie bei computeraffinen Bekannten in Auftrag gaben (oder – wie ich – trotzig boykottierten, um dafür null Punkte einzustreichen)!
Doch, wenn ich das schon so empfunden habe, die Klassen-/ Kurssprecherin, die ohne größere Anstrengungen ihr Abi mit 1,6 abgeschlossen hat: Wie mag es anderen gegangen sein, die einen weniger guten Stand bei Mitschülern und Lehrern hatten, denen das Lernen schwerer gefallen ist?
Erst im Studium habe ich gemerkt, was in der Schule trotz des ganzen Drucks nie aufgefallen ist, weil offenbar andere Dinge wichtiger waren: Dass ich leise in demselben Tempo lese wie laut – sehr ungünstig für das Durcharbeiten größerer Texte im Studium. Dass ich keine Technik für das Vokabellernen beherrsche und neue Wörter in fremden Sprachen immer nur im Kurzzeitgedächtnis speichere. . . Diese Versäumnisse habe ich nie korrigiert, mein Leben bis jetzt aber trotzdem ganz gut gemeistert. Zugleich war nach dem Abitur das Prüfungssystem im Bachelorstudium für mich eine ungeahnte Wohltat im Vergleich zu dem der Schule: ein bis drei Monate im Voraus kommunizierte Prüfungs- oder Referatstermine statt täglicher Angst vor unangekündigten Leistungskontrollen – wie viel weniger Druck hätte ein solches System schon in der Schule für mich bedeuten können! Mangels an Grundlagen. Dementsprechend war ich auch nicht gut, aber der Stoff, der da vermittelt wurde, war meiner Meinung nach auch nur dazu da, um Mathematiklehrer zu werden, und das war sowieso nicht meine Absicht.
Mathe war nicht das einzige Fach, das so ablief. Ähnlich ging es mir bei Chemie, Englisch und, obwohl ich immer sehr sportlich war, auch beim Geräteturnen im Sport. Ich war immer intelligent genug, um durch die Prüfungen zu kommen ohne stundenlanges Auswendiglernen. Aber akzeptiert habe ich das System nie, weil es für mich nie in sich schlüssig und vor allem nicht vorbereitend auf das weitere Leben war.
Nach dem Abi spiegelte sich das dann wider. Ich war antriebslos, wusste nicht, was ich machen sollte, wo meine Stärken lagen. Also erst mal Bundeswehr, wie viele meiner Freunde. Doch das stellte sich als noch dümmerer Weg heraus, den ich nach meinem Grundwehrdienst sofort verlassen habe. Erst nach vier Jahren merkte ich, was ich wirklich kann. Ich habe angefangen