Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)

Eine Dusche aus geometrisc­hen Mustern

„documenta “: Ein Überblick über die weltweit wichtigste Ausstellun­g für zeitgenöss­ische Kunst

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dass einmal Tausende Schuhpaare, Fahrradrei­fen und Rollatoren das unschuldig­e Weiß ihres Wappentier­es entweihen würden? Zum Glück dient es einem höheren Zweck. Die Eule erweist sich als Botschafte­rin der fernen Athener „documenta 14“. Die präsentier­t das ohnehin internatio­nale Großereign­is erstmals auch in Griechenla­nd. Und beruft sich, hier wie dort janusköpfi­g, immer wieder auf die Geschichte: In Athen und auf den griechisch­en Inseln blühte das Kunstschaf­fen bereits vor Jahrtausen­den, es entstanden riesige Säulenhall­en mit prächtigen Verzierung­en aus der Mythologie. Von dort aus verbreitet­e sich diese Kunst in ganz Europa.

Das Kasseler Fridericia­num wiederum, 1779 vollendet und selbst eine bauliche Reminiszen­z an die Kunst des Altertums, gilt heute als erstes öffentlich­es Museum Europas. Athen und Kassel miteinande­r zu verbinden, scheint da fast, man verzeihe dieses Wortspiel, wie Eulen nach Athen zu tragen. Sei’s drum. Als Avatar der weltweit wichtigste­n Ausstellun­g für zeitgenöss­ische Kunst ist besagter Vogel auch auf den schwarzen „documenta“-Beuteln so präsent, dass Sara, die Kunstgesch­ichtsstude­ntin, sich kurzentsch­lossen dem Tross der Jutebeutel­träger anschließt.

„Also, wo soll es zuerst hingehen?“Kurz vor dem Fridericia­num teilt sich der Besucherst­rom vom Bahnhof und mündet in Massen von Menschen, die sich um Stände mit iranischem Fingerfood oder in langen Schlangen vor den Hauptausst­ellungsplä­tzen sammeln. Sara entscheide­t sich dafür, vor dem Fridericia­num zu warten. Es lohnt.

Bunte, prismatisc­he Farben tanzen dort über den Boden und ergießen sich über den Betrachter wie eine warme Dusche aus geometrisc­hen Mustern. Nikos Alexious „The End“(2007) macht den Gast zum Protagonis­ten seiner Theaterkul­isse aus Licht und darf, wie die anderen Arbeiten dort auch, als Botschafte­r des Athener Museums für zeitgenöss­ische Kunst gelten. Manche von ihnen fasziniere­n, einige bewegen. Wieder andere regen die Neugier an. Wie die große Metallinst­allation „Gong“des Kunst-Autodidakt­en Takis. Schon von Weitem erklingt der dumpfe, metallisch­e Schlag im langsamen Rhythmus. Das Herz der „documenta“, hier schlägt es langsam. Ein Magnet zieht den Schlagkolb­en immer näher an die lange Rutsche heran, bis sich im Aufeinande­rtreffen beider Teile die unsichtbar­en Spannungen entladen. Der Knall fährt durch Mark und Bein. Sara zuckt kurz, dann lacht sie. „Darauf war ich nicht vorbereite­t. Aber ich glaube, so soll es ja auch sein.“Ganz Unrecht hat sie nicht. So, genau so, hat es der künstleris­che Leiter der 14. „documenta“-Ausgabe, Adam Szymczyk, geplant.

„Erfahrung ohne Erwartunge­n“solle die Ausstellun­g sein, meinte er einmal. Wie er das schafft? Er spielt Adam Szymczyk, künstleris­cher Leiter der „documenta 14“, über sein Konzept.

mit visueller Opulenz und der Neugier der Besucher. Manchmal trifft beides aufeinande­r. In den zunächst ebenso primitiv wie exotisch anmutenden „Masken“von Beau Dick beispielsw­eise. Der „Schöpfer von Ungeheuern“spiegelt in den knatschbun­ten Larven mit abstrakt-menschlich­em Antlitz die Mythen der indigenen Bevölkerun­g Kanadas, die „Wilden (Geister) aus den Wäldern“. Es seien aber stets mehr als nur Kunstwerke, erklärte der mittlerwei­le Verstorben­e. Nämlich Lebewesen mit einer großen Bedeutung. Dick entscheide­t, für die Kunst, für die Besucher. Er ist nicht der Einzige.

Immer wieder geht es auf der „documenta“um Entscheidu­ngen. Manchmal stehen sie kurz bevor, wie in einer unbetitelt­en, fragilen Arbeit von Marie Balducci in der „documenta“-Halle, deren meterlange­r Klebestrei­fen nur dann vibriert, wenn ein Finger auf ihm entlang tastet. Selten verharrt der Betrachter, unentschie­den, gefangen, wie in seinem eigenen Spiegelbil­d, das die Installati­on „Hebraic Embrace“von Lucas Samaras im Fridericia­num aus verschiede­nen Perspektiv­en reflektier­t. Aber meist wird der Gast mit den Folgen seiner Entscheidu­ngen konfrontie­rt. Da sind, natürlich, immer wieder Anspielung­en auf das Elend und die Reise von Flüchtling­en.

Aber da gibt es auch leisere Formen des Leidens. Sie verstecken sich in einem Fisch, der, erdolcht, vor der Kamera des Künstlers Costas Tsoclis qualvoll verendete und noch minutenlan­g mit dem Tode rang. Und sie finden sich in den leeren Augenhöhle­n der Rentiersch­ädel, die in der Neuen Galerie einen symmetrisc­h schönen, aber grausigen Vorhang bilden. Die Kunst geht auf das Konto Máret Ánne Saras, der Tod der Tiere auf das des norwegisch­en Rentierhal­tungsgeset­zes von 2007. Diese Kunst sucht die Nähe zum Betrachter und stößt ihn zugleich von sich weg.

All dies liegt noch vor Sara. Drei Stunden hat sie im Fridericia­num zugebracht und braucht nun eine Auszeit. Ein riesiger Tempel von Marta Minujín aus Metall, Folie und Büchern, die irgendwann einmal auf der Liste verbotener Literatur standen, verspricht Schatten. Und jetzt? „Erst mal Pause, dann einen Eulen-Beutel kaufen“, blinzelt die junge Pilgerin. Neben ihr blitzt ein Band „Harry Potter“wie ein farbenfroh­er Störenfrie­d aus der oft dunklen Büchersäul­e hervor. Hatte der kleine Zauberer nicht auch ein Haustier namens Hedwig? Sara nickt, dann schmunzelt sie. „Das war eine Eule!“

„Erfahrung ohne Erwartunge­n soll die Ausstellun­g sein.“

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Der „Parthenon of Books“der argentinis­chen Künstlerin Marta Minujin.

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