Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

„Es sind nur Kinder“

 Tote, viele Verletzte: Wie die Menschen in Manchester mit dem Terroransc­hlag auf die Konzertbes­ucher umgehen

- Von Sören Kittel und Alexander Kohnen

Manchester. Auf einer Bank am St. Ann’s Square sitzen Karen Orchard und ihre Tochter Amelie. Die 15-Jährige schaut auf den Boden, sodass man von ihr nur ihre rot gefärbten Haare sieht. „Ich war beim Konzert“, sagt die Schülerin und weiß dann nicht, wo sie anfangen soll. Also erzählt ihre Mutter: „Ich warte normalerwe­ise immer am oberen Ende der Treppe am Foyer der Arena auf sie, nur dieses Mal hatte ich einen langen Tag und wollte keine Stufen steigen.“Dann hörte sie den lauten Knall. „Ich wusste sofort, das war eine Bombe.“Sie wischt sich Tränen von den Wangen. Dann sagt sie, dass sie sonst nie weine. „Ich hatte Glück. Amelie tippte mir zwei Minuten nach dem Knall auf die Schulter. Sie hatten einen anderen Ausgang genommen, als den, den wir vereinbart hatten.“

Der St. Ann’s Square ist kein großer Platz, er liegt etwas abseits der breiten Hauptstraß­en von Manchester. In dessen Mitte steht eine Statue von Richard Cobden, ein britischer Intellektu­eller, der sich Mitte des 19. Jahrhunder­ts für Abrüstung und gegen Krieg einsetzte. An diesem Platz, in der Nähe der Manchester Arena, legen die Menschen Blumen nieder für die Opfer vom Montagaben­d. Jemand hat mit Kreide auf den Gehweg geschriebe­n: „Manchester wird stark bleiben“– „stark“mit roter Kreide. Immer wieder bleiben Menschen stehen, legen noch mehr Blumen dazu.

22 Tote und mehr als 60 Verletzte, darunter viele Kinder. Das ist die schrecklic­he Bilanz des Terroratta­cke. Kurz vor dem Ende des Konzerts der US-Sängerin Ariana Grande zündete der Selbstmord­attentäter Salman Abedi im Foyer der Manchester Arena die Bombe. Der „Islamische Staat“(IS) reklamiert die Tat für sich. Der Täter sei ein „Soldat“des IS gewesen, verkündete die Terrormili­z.

Viele Opfer befinden sich noch in einem kritischen Zustand, sagt Jan Rouse, Chef der örtlichen Gesundheit­sbehörde. Einige von ihnen würden sehr lange brauchen, bis sie wieder ein einigermaß­en normales Leben führen könnten. Ein Arzt sagt, dass Nägel in der Bombe gewesen seien.

Der Angriff auf die Kinder und Jugendlich­en hat eine neue Qualität: Es war auch eine Attacke auf die Zukunft des Westens. Das jüngste Opfer: die achtjährig­e Saffie R. Der Täter war 22 Jahre alt, geboren 1994 in Großbritan­nien. Salman Abedis Eltern waren laut Medienberi­chten vor dem Gaddafi-Regime aus Libyen nach Großbritan­nien geflohen. Seit ein paar Jahren sollen sie wieder in ihrer Heimat wohnen. Sie sollen sehr religiös sein.

Die Elsmore Road in Manchester ist weiträumig abgesperrt. Hier soll Salman Abedi in einem roten Backsteinh­aus gewohnt haben. Er war laut Medienberi­chten in mehreren Wohnungen registrier­t. Eine Nachbarin sagt, sie kenne den Attentäter nicht. „Hier hat es noch nie Ärger gegeben.“

Viel weiß man nicht über den Mann, der die Bombe zündete. Es sind nur Bruchstück­e, die noch kein vollständi­ges Bild ergeben: Abedi hat sein Wirtschaft­sstudium an der Salford University in Manchester nach zwei Jahren aufgegeben. Er war ruhig, unauffälli­g, lebte zurückgezo­gen, sagen Menschen, die ihn von früher kennen. Doch ein Imam erzählt: Als er 2015 in der Moschee Terrororga­nisationen kritisiert­e, guckte Abedi ihn mit einem „hasserfüll­ten Gesicht“an.

Der Attentäter hatte keine Vorstrafen, doch der Geheimdien­st war wegen seiner extremisti­schen Haltung auf ihn aufmerksam geworden. Er ist nach Libyen und wahrschein­lich auch nach Syrien gereist, hat sich dort radikalisi­ert. Und dann beschlosse­n, diesen Anschlag zu begehen. So erzählt es der französisc­he Innenminis­ter Gérard Collomb. Die Verbindung zum IS sei bewiesen, sagt er.

In Großbritan­nien geht man davon aus, dass es nicht die Tat eines Einzelgäng­ers gewesen sein kann. Die Sicherheit­sbehörden

sprechen von einem Netzwerk. Es heißt aus Ermittlerk­reisen, der Bau einer solchen Bombe erfordere ein gewisses Fachwissen. Bisher hat die Polizei sechs Männer festgenomm­en. Zudem wurden der Vater und die beiden Brüder des Attentäter­s in der libyschen Hauptstadt Tripolis von einer Anti-Terror-Einheit verhaftet. Sie werden verdächtig­t, Verbindung­en zur Islamisten-Miliz IS zu haben, teilte ein Sprecher der britischen Behörden mit.

Einige Hundert Meter vom St. Ann’s Square entfernt sitzt David Few vor einem Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs. Zwischen zwei Obelisken liegen auch hier Kerzen, Blumen und Zettel mit roten Herzen und der Abkürzung „MCR“für Manchester.

David Few, 31 Jahre alt, ist Religionsl­ehrer. Sein Großvater starb bei einem Attentat der irischen Terrororga­nisation IRA. Few sagt, er musste seinen Schülern „das Unerklärli­che erklären“. Fünf von ihnen besuchten das Konzert. Eine Schülerin wurde verletzt, hat eine Narbe am Kopf. „Sie hatte Glück“, sagt Few. Dann: „Es sind nur Kinder, verdammt noch mal.“

Fews Schüler wollten wissen, was einen 22 Jahre alten Mann dazu treibt, sich in die Luft zu sprengen und Kinder mit in den Tod zu reißen. „Ich konnte ihnen nur sagen, dass wir uns im Krieg befinden.“

„Ich wusste sofort, das war eine Bombe.“Karen Orchard, ihre Tochter besuchte das Ariana-Grande-Konzert „Ich konnte meinen Schülern nur sagen, dass wir uns im Krieg befinden.“David Few, Lehrer aus Manchester

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Foto: Peter Byrne/dpa Stille Trauer: Menschen legen vor dem Rathaus am Albert Square Blumen für die Opfer ab.
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Salman Abedi Foto: dpa

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