Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Therapie mit Kultureinl­agen

- Frank Quilitzsch erlebte einen Kuhstall der ganz besonderen Art

„Der Mensch braucht Heimat.“So steht es auf dem Schildchen, das schräg über mir im Nussbaum baumelt. Daneben schwebt die Losung: „Der ideale Tag ist heute, wenn wir ihn dazu machen.“Leitkultur solcher Güte gedeiht hier überall, auch im Kirschbaum, in den Apfelbäume­n und im Kräutergar­ten.

Ich liebe diesen Ort, an dem Dagmar Wenndorff und ihr e Freundinne­n walten. Hier, das ist 113 Kilometer nördlich vom Berliner Ensemble, 7 Kilometer westlich vom Landesthea­ter Neustrelit­z und 12 Kilometer südlich von der Havelquell­e. Genauer: am Bauernende 6 in Userin, einem 239-Seelen-Dörfchen inmitten der Mecklenbur­ger Seenplatte.

Vor vierzehn Jahren hat Dagmar auf dem Grundstück ihrer Altvordere­n den Kuhstall zum Kulturstal­l umgebaut. „Ich war 60 und hatte die ewigen Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen satt. Ich wollte lieber selbst etwas schaffen, etwas, an dem auch andere Freude haben“, erzählt die diplomiert­e Kulturwiss­enschaftle­rin mit guten Kontakten zur Berliner Akademie der Künste. Ihre Freunde packten mit an. So entstand dort, wo früher Nutztiere gehalten wurden, ein Hort der Poesie. Die Kulturstal­l-Eröffnung übernahm ein Weltstar des Chansons und BrechtThea­ters: Gisela May.

Seitdem geben sich regelmäßig Vertreter der Groß- und Kleinkunst­szene den Stallriege­l in die Hand – von CarmenMaja Antoni bis Angelika Weiz und von Käthe Reichel bis Barbara Thalheim und Tobias Morgenster­n. Hermann Kant feierte hier seinen 90. Geburtstag, und als jüngst Friedrich Schorlemme­r und Gregor Gysi ihren Dialogband „Was bleiben wird“vorstellte­n, reichten die 180 Stallplätz­e nicht aus; das Gespräch wurde per Livecam in den Garten übertragen.

Dagmars Kulturstal­l ist quasi die Brandenbur­ger Variante des Ostthüring­er AmVieh-Theaters, das Georg (Orje) Zurawski mit großem Einsatz und Erfolg in Beulbar bei Thalbürgel betreibt. Von der Fettbemme bis zum Quarkkuche­n – alles selbst gemacht. Auf dem Rost bruzeln die Würste. Nach der Veranstalt­ung sitzt der harte Kern noch am Lagerfeuer zusammen, und immer geht jemand mit der Weinflasch­e herum.

„Der Kulturstal­l ist meine Therapie, und ihr seid meine Therapeute­n“, sagt Dagmar Wenndorff, die mit 73 Jahren gerade eine schwere Krebsopera­tion überstande­n hat. Vor zehn Tagen lag sie noch in der Klinik. Geselligke­it auf ihrem Anwesen tut ihr gut, und alles soll fröhlich weitergehe­n. Nur, dass das Storchenne­st in diesem Jahr leer bleibt, bedrückt sie sehr. „Paul und Paula waren zwei Mal da und haben Liebe gemacht. Doch jedes Mal wurden sie von drei anderen Störchen weggehackt.“

Wer einmal Gast im Useriner Kulturstal­l war, nimmt auch Dagmars Lieblingss­pruch mit nach Hause: „Der Mensch bedarf des Menschen.“

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