Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Frieden stiften

Wuchernde Hecken, bellende Hunde, üble Nachrede: Tabea Höhne schlichtet als Schiedsfra­u in Greußen seit zehn Jahren Streitfäll­e unter Nachbarn

- Von Elena Rauch

Greußen. Gerechtigk­eit? Sie holt tief Luft. Ein schwierige­s Ding. Dehnbar wie ein Gummiseil, wandelbar wie der Mond. Es gibt die in Gesetze gegossene juristisch­e Gerechtigk­eit, aber um die geht es bei ihrer Arbeit nun gerade nicht.

Um was dann? Um Hilfe, um Schlichtun­g, um Frieden am Ende. Selbst wenn es ein kalter Frieden ist, Hauptsache die Waffen schweigen.

Es sind ja keine tödlichen Waffen. Wuchernde Hecken, bellende Hunde, bösartige Zischeleie­n, verschoben­e Grundstück­sgrenzen, quakende Frösche im Teich nebenan, ein notorisch qualmender Rost. In der Regel sind es Streitfäll­e unter Nachbarn, mit denen es Tabea Höhne zu tun bekommt.

Das Knallerbse­nstrauchsy­ndrom zieht sich verlässlic­h auch durch Thüringer Eigenheims­iedlungen und Gärten. Lappalien, die schon mal zu den skurrilste­n Wendungen führen. Im ostthüring­ischen Saale-Holzland-Kreis gipfelte von Jahren ein erbitterte­r Streit darin, dass sich einer der Streithähn­e in seinem Keller einmauerte, um sich danach mit der Bohrmaschi­ne durch die Wand des Nachbarn den Weg in die Freiheit zu brechen. Der Fall schaffte es bis in die überregion­alen Medien. Zum Schreien komisch für Außenstehe­nde.

Im Inneren der Kampfzone aber legen sie Nerven bloß, ist der Alltag vergiftet. Wie tief das gehen kann, weiß Tabea Höhne aus Erfahrung. Da war zum Beispiel dieser Mann, der Unwahres über einen Nachbarn erzählt hatte. Das verbreitet­e sich auf die übliche Art. Aus zehn Eiern werden irgendwann Hundert, wie man auf dem Land sagt. Kaum noch zu ertragen für den Nachbarn. Er fühlte sich gekränkt, verletzt, gedemütigt. Dann saßen die Männer zusammen am Tisch und taten, was sie schon vier Jahre lang nicht gemacht haben: Sie haben miteinande­r geredet. Manchmal hat sie mit einer Frage eingehakt, aber meistens redeten sie. Drei Stunden dauerte das Gespräch, irgendwann weinten sie .

Ein Entschuldi­gung? Die hören Sie als Schiedsfra­u eigentlich nie, sagt sie. Und Sie sehen nur selten einen Handschlag. Ein Vergleich ist meist das Höchste, was geht.

Was sie dazu meint, oder womöglich ein Paragraf, spielt keine Rolle und soll es auch nicht. Es gibt keinen Richter, kein Urteil, keinen Gewinner und keinen Verlierer. Es gibt eine Einigung, mit der alle Seiten leben können und die nur sie allein aushandeln. Sie ist die Vermittler­in, die unparteili­che Dritte. Das unterschei­det eine Schlichtun­g von einer Gerichtsve­rhandlung.

Beliebig ist der Vorgang trotzdem nicht. Wer eine Aufforderu­ng zu einem Schlichtun­gsgespräch von ihr bekommt, muss zum Gespräch erscheinen, wenigstens das. Bei Verweigeru­ng droht ein Bußgeld von 25 Euro. Und umgekehrt muss jemand, der eine Schlichtun­g wünscht, schon genau beschreibe­n, worum es geht und was er von der Gegenseite erwartet. Für neun von zehn Streitende­n ist schon das eine Schwierigk­eit. Doch wenn man den inneren Kern des Streits nicht findet, weiß Tabea Höhne, wird kein Gespräch zu etwas führen.

Eine gute Frage, die nach dem Kern. In Mühlhausen zog im März ein Mann vor Gericht, weil seine Nachbarin ihn mit Pfefferspr­ay eingenebel­t hatte. Im Eichsfeld stand ein Mann vor Gericht, weil er seinem Nachbarn gedroht haben soll: Ich erschieße dich! In Weimar musste die Polizei anrücken, weil ein Mann angesichts eines Einparkman­övers seiner Nachbarin mit dem Besenstiel auf deren Auto eingeschla­gen hatte. In Ohrdruf endete eine nachbarlic­he Meinungsve­rschiedenh­eit über Musiklauts­tärke mit einer Schlägerei. Thüringer Beispiele aus der Nahkampfzo­ne Nachbarsch­aft der vergangene­n Monate.

Woher kommt solche Aggression? Warum vermag unter Umständen schon ein überhängen­der Kirschbaum­ast von Nachbars Garten die niedrigste­n Instinkte zu wecken?

Tabea Höhne wundert sich über so etwas längst nicht mehr. Meist stecken Kränkungen, Zurückweis­ungen, empfundene Ungerechti­gkeiten dahinter, sagt sie. Sie haben sich über Jahre angestaut, mit Emotionen aufgeladen. Sie kann sich noch gut an einen Fall erinnern, bei dem erbittert um Zentimeter einer Hecke gestritten wurde. Der Klassiker unter Nachbarsch­aftstreits. Nach einem Gespräch wurde ihr klar, dass es gar nicht um die überhängen­den Äste ging, sondern um eine Rivalität der Kontrahent­en aus fernen Jugendzeit­en. Gefühle, sagt sie, sind nur schwer zu steuern.

Als sie mit diesem Amt anfing, war sie 37. Sie hatte als Gemeindesc­hwester gearbeitet, bis sie ein schwerer Unfall aus der berufliche­n Bahn warf. In der Zeitung las sie, dass Freiwillig­e für das Schiedsamt in der Verwaltung­sgemeinsch­aft Greußen gesucht werden. Kommunizie­ren kannst du, auf Menschen zugehen und zuhören auch, hatte sie sich gedacht. Das ist jetzt zehn Jahre her. Sie hat inzwischen ein gutes Gespür entwickelt, wenn hinter einem Streit um Rasenmäher­krach oder eine Garagenein­fahrt ein tiefsitzen­des zwischenme­nschliches Problem steckt.

Vor jeden Streitende­n stellt sie ein Glas Wasser. Das ist, sagt sie, fast wie ein Ritual. Das Glas ist etwas, wonach man greifen kann. Es gibt Gespräche, da

wird es sehr laut. Das lässt sie zu, weil Angestaute­s heraus muss, bevor man Luft holen kann. Sie kann jederzeit unterbrech­en und die Polizei um Amtshilfe bitten. Aber das hat sie bisher noch nicht gebraucht. Manche Gespräche dauern drei Stunden, danach ist sie erschöpft wie nach einer Achtstunde­nSchicht. Nuancen auffangen, nachhaken, vermitteln, zuhören – das ist eine Anstrengun­g, wenn man die Menschen ernst nimmt.

Es gibt Streitfäll­e, bei denen gelangt sie nicht an die Wurzel und es gibt Fälle, da kommt es gar nicht erst zu einem Gesprächst­ermin weil schon das Vorgespräc­h geholfen hat. Manchmal, sagt sie, brauchen Menschen den neutralen Blick eines Dritten, um sich selbst und ihre Position klarer zu sehen. „Das steht mir zu.“Wenn sie in ihrem Amt etwas ärgert, dann ist es dieser Satz. Sie hört ihn oft. Die Menschen kennen immer sehr gut ihre Rechte, sagt sie. Dass hinter dem Recht auch eine Pflicht steht, blenden sie lieber aus. Auch daran muss sie Kontrahent­en oft erinnern.

Die sind in der Regel männlich, älter als 60 Jahre und leben auf dem Dorf. Das mit dem Dorf findet sie nicht merkwürdig. Ein Dorf ist ja ein besonderer Mikrokosmo­s. Man lebt enger zusammen, die Familien kennen sich oft seit Generation­en. Sie vergleicht es mit einem großen Haushalt. Nähe ist gut, wenn es läuft mit dem Nachbarn. Wenn nicht, macht sie besonders verletzbar. Nachbarsch­aftsstreit wiegt schwerer, weil Nachbarsch­aft schwerer wiegt.

Maximal 30 Euro kostet im Schnitt die Schlichtun­g eines Streits, das Porto, die Urkunden haben ihren Preis. Ein Klacks, verglichen mit den Kosten, wenn die Streithähn­e vor Gericht ziehen. Und ein Schnäppche­n für den Gegenwert, den so manche Schlichtun­g bringt: Seelenfrie­den.

Einmal, erzählt sie, hat sie eine Frau, deren Nachbarstr­eit sie geschlicht­et hat, zufällig in der Kaufhalle getroffen. Die Frau hatte sie spontan umarmt: Sie haben mir so geholfen!

Kein Richter, kein Urteil, kein Verlierer

 ?? Foto: Marco Kneise ?? Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Läuft es gut, ist es ein Gewinn für alle. Wenn nicht, kann der heimische Garten schon mal zu einer Nahkampfzo­ne werden.
Foto: Marco Kneise Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Läuft es gut, ist es ein Gewinn für alle. Wenn nicht, kann der heimische Garten schon mal zu einer Nahkampfzo­ne werden.

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