Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Frieden stiften
Wuchernde Hecken, bellende Hunde, üble Nachrede: Tabea Höhne schlichtet als Schiedsfrau in Greußen seit zehn Jahren Streitfälle unter Nachbarn
Greußen. Gerechtigkeit? Sie holt tief Luft. Ein schwieriges Ding. Dehnbar wie ein Gummiseil, wandelbar wie der Mond. Es gibt die in Gesetze gegossene juristische Gerechtigkeit, aber um die geht es bei ihrer Arbeit nun gerade nicht.
Um was dann? Um Hilfe, um Schlichtung, um Frieden am Ende. Selbst wenn es ein kalter Frieden ist, Hauptsache die Waffen schweigen.
Es sind ja keine tödlichen Waffen. Wuchernde Hecken, bellende Hunde, bösartige Zischeleien, verschobene Grundstücksgrenzen, quakende Frösche im Teich nebenan, ein notorisch qualmender Rost. In der Regel sind es Streitfälle unter Nachbarn, mit denen es Tabea Höhne zu tun bekommt.
Das Knallerbsenstrauchsyndrom zieht sich verlässlich auch durch Thüringer Eigenheimsiedlungen und Gärten. Lappalien, die schon mal zu den skurrilsten Wendungen führen. Im ostthüringischen Saale-Holzland-Kreis gipfelte von Jahren ein erbitterter Streit darin, dass sich einer der Streithähne in seinem Keller einmauerte, um sich danach mit der Bohrmaschine durch die Wand des Nachbarn den Weg in die Freiheit zu brechen. Der Fall schaffte es bis in die überregionalen Medien. Zum Schreien komisch für Außenstehende.
Im Inneren der Kampfzone aber legen sie Nerven bloß, ist der Alltag vergiftet. Wie tief das gehen kann, weiß Tabea Höhne aus Erfahrung. Da war zum Beispiel dieser Mann, der Unwahres über einen Nachbarn erzählt hatte. Das verbreitete sich auf die übliche Art. Aus zehn Eiern werden irgendwann Hundert, wie man auf dem Land sagt. Kaum noch zu ertragen für den Nachbarn. Er fühlte sich gekränkt, verletzt, gedemütigt. Dann saßen die Männer zusammen am Tisch und taten, was sie schon vier Jahre lang nicht gemacht haben: Sie haben miteinander geredet. Manchmal hat sie mit einer Frage eingehakt, aber meistens redeten sie. Drei Stunden dauerte das Gespräch, irgendwann weinten sie .
Ein Entschuldigung? Die hören Sie als Schiedsfrau eigentlich nie, sagt sie. Und Sie sehen nur selten einen Handschlag. Ein Vergleich ist meist das Höchste, was geht.
Was sie dazu meint, oder womöglich ein Paragraf, spielt keine Rolle und soll es auch nicht. Es gibt keinen Richter, kein Urteil, keinen Gewinner und keinen Verlierer. Es gibt eine Einigung, mit der alle Seiten leben können und die nur sie allein aushandeln. Sie ist die Vermittlerin, die unparteiliche Dritte. Das unterscheidet eine Schlichtung von einer Gerichtsverhandlung.
Beliebig ist der Vorgang trotzdem nicht. Wer eine Aufforderung zu einem Schlichtungsgespräch von ihr bekommt, muss zum Gespräch erscheinen, wenigstens das. Bei Verweigerung droht ein Bußgeld von 25 Euro. Und umgekehrt muss jemand, der eine Schlichtung wünscht, schon genau beschreiben, worum es geht und was er von der Gegenseite erwartet. Für neun von zehn Streitenden ist schon das eine Schwierigkeit. Doch wenn man den inneren Kern des Streits nicht findet, weiß Tabea Höhne, wird kein Gespräch zu etwas führen.
Eine gute Frage, die nach dem Kern. In Mühlhausen zog im März ein Mann vor Gericht, weil seine Nachbarin ihn mit Pfefferspray eingenebelt hatte. Im Eichsfeld stand ein Mann vor Gericht, weil er seinem Nachbarn gedroht haben soll: Ich erschieße dich! In Weimar musste die Polizei anrücken, weil ein Mann angesichts eines Einparkmanövers seiner Nachbarin mit dem Besenstiel auf deren Auto eingeschlagen hatte. In Ohrdruf endete eine nachbarliche Meinungsverschiedenheit über Musiklautstärke mit einer Schlägerei. Thüringer Beispiele aus der Nahkampfzone Nachbarschaft der vergangenen Monate.
Woher kommt solche Aggression? Warum vermag unter Umständen schon ein überhängender Kirschbaumast von Nachbars Garten die niedrigsten Instinkte zu wecken?
Tabea Höhne wundert sich über so etwas längst nicht mehr. Meist stecken Kränkungen, Zurückweisungen, empfundene Ungerechtigkeiten dahinter, sagt sie. Sie haben sich über Jahre angestaut, mit Emotionen aufgeladen. Sie kann sich noch gut an einen Fall erinnern, bei dem erbittert um Zentimeter einer Hecke gestritten wurde. Der Klassiker unter Nachbarschaftstreits. Nach einem Gespräch wurde ihr klar, dass es gar nicht um die überhängenden Äste ging, sondern um eine Rivalität der Kontrahenten aus fernen Jugendzeiten. Gefühle, sagt sie, sind nur schwer zu steuern.
Als sie mit diesem Amt anfing, war sie 37. Sie hatte als Gemeindeschwester gearbeitet, bis sie ein schwerer Unfall aus der beruflichen Bahn warf. In der Zeitung las sie, dass Freiwillige für das Schiedsamt in der Verwaltungsgemeinschaft Greußen gesucht werden. Kommunizieren kannst du, auf Menschen zugehen und zuhören auch, hatte sie sich gedacht. Das ist jetzt zehn Jahre her. Sie hat inzwischen ein gutes Gespür entwickelt, wenn hinter einem Streit um Rasenmäherkrach oder eine Garageneinfahrt ein tiefsitzendes zwischenmenschliches Problem steckt.
Vor jeden Streitenden stellt sie ein Glas Wasser. Das ist, sagt sie, fast wie ein Ritual. Das Glas ist etwas, wonach man greifen kann. Es gibt Gespräche, da
wird es sehr laut. Das lässt sie zu, weil Angestautes heraus muss, bevor man Luft holen kann. Sie kann jederzeit unterbrechen und die Polizei um Amtshilfe bitten. Aber das hat sie bisher noch nicht gebraucht. Manche Gespräche dauern drei Stunden, danach ist sie erschöpft wie nach einer AchtstundenSchicht. Nuancen auffangen, nachhaken, vermitteln, zuhören – das ist eine Anstrengung, wenn man die Menschen ernst nimmt.
Es gibt Streitfälle, bei denen gelangt sie nicht an die Wurzel und es gibt Fälle, da kommt es gar nicht erst zu einem Gesprächstermin weil schon das Vorgespräch geholfen hat. Manchmal, sagt sie, brauchen Menschen den neutralen Blick eines Dritten, um sich selbst und ihre Position klarer zu sehen. „Das steht mir zu.“Wenn sie in ihrem Amt etwas ärgert, dann ist es dieser Satz. Sie hört ihn oft. Die Menschen kennen immer sehr gut ihre Rechte, sagt sie. Dass hinter dem Recht auch eine Pflicht steht, blenden sie lieber aus. Auch daran muss sie Kontrahenten oft erinnern.
Die sind in der Regel männlich, älter als 60 Jahre und leben auf dem Dorf. Das mit dem Dorf findet sie nicht merkwürdig. Ein Dorf ist ja ein besonderer Mikrokosmos. Man lebt enger zusammen, die Familien kennen sich oft seit Generationen. Sie vergleicht es mit einem großen Haushalt. Nähe ist gut, wenn es läuft mit dem Nachbarn. Wenn nicht, macht sie besonders verletzbar. Nachbarschaftsstreit wiegt schwerer, weil Nachbarschaft schwerer wiegt.
Maximal 30 Euro kostet im Schnitt die Schlichtung eines Streits, das Porto, die Urkunden haben ihren Preis. Ein Klacks, verglichen mit den Kosten, wenn die Streithähne vor Gericht ziehen. Und ein Schnäppchen für den Gegenwert, den so manche Schlichtung bringt: Seelenfrieden.
Einmal, erzählt sie, hat sie eine Frau, deren Nachbarstreit sie geschlichtet hat, zufällig in der Kaufhalle getroffen. Die Frau hatte sie spontan umarmt: Sie haben mir so geholfen!
Kein Richter, kein Urteil, kein Verlierer