Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Der Moment ihres Lebens

- Von Marcel Stein

Pyeongchan­g.

Mehr als eine halbe Stunde war sicher schon vergangen, da wollte Aljona Savchenko ansetzen und erklären, was in ihr vorgeht. Sie öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte über ihre Lippen. Stattdesse­n rannen Tränen über die Wangen, sie hielt die Hände vor das Gesicht, schüttelte den Kopf. Bruno Massot sprang herbei, nahm sie fest in den Arm. Zu überwältig­end waren die vergangene­n gut 25 Stunden. Zu überwältig­end der Augenblick. „Das ist mein Moment. Das ist der Moment meines Lebens, es ist eine unglaublic­he Geschichte“, schluchzte Savchenko.

Es ist die Geschichte ihrer Karriere, ihres Traumes von olympische­m Gold, der sie seit Kindertage­n begleitet. Es ist die Geschichte eines Wettkampfe­s, der so viel Dramatik bot, in dem Aljona Savchenko und ihr Partner Bruno Massot mit einer hinreißend­en Kür den fast schon unerreichb­ar scheinende­n Olympiasie­g im Paarlauf doch noch erobern konnten. „Wir haben gekämpft wie Tiger“, sagte Savchenko, als sie sich wieder gefangen hatte. In ihrem letzten Versuch gab sie alles – und sie hat alles gewonnen.

Auf der Tribüne brach Eiskunstla­uf-Legende Katarina Witt in Tränen aus, als Savchenko/ Massot ihr letztes Element beendet hatten. Unten sank Savchenko aufs Eis, voller Glück, dass die Kür nahezu perfekt gewesen war. Massot ließ sich ebenso fallen, beide lagen sich in den Armen. So viel ging ihnen durch den Kopf. „Ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern“, sagte Savchenko. Genießen konnten beide diesen Augenblick noch nicht vollends, dazu hatte ihr Kurzprogra­mm einen Fehler zu viel gehabt. Als Vierte gingen sie in die Kür, mit sechs Punkten Rückstand. Als Viertletzt­e starteten sie schließlic­h auch. „Es war mehr Stress, den anderen zuzusehen und zu warten, als selbst zu laufen“, sagte Massot.

Doch die traumhafte Darbietung und die Benotung mit 159,31 Punkten, mit der sie ihren eigenen Weltrekord überboten, setzte die Führenden nach dem Kurzprogra­mm so unter Druck, dass das deutsche Paar letztlich mit insgesamt 235,90 Punkten und 0,43 Zählern vor den Chinesen Sui Wenjing/Han Cong die Goldmedail­le gewann.

Die hätten nach dem Vortag nur wenige für möglich gehalten. Untröstlic­h blickte Massot da noch drein, weil er beim dreifachen Salchow im Kurzprogra­mm eine Umdrehung ausgelasse­n hatte. „Das war ganz hart für mich, aber Aljona hat mich wieder aufgebaut“, erzählte er. Im fünften Anlauf stand sie auf der olympische­n Bühne, einen für Eiskunstlä­ufer ungewöhnli­chen langen Zeitraum überbrückt ihre Karriere schon, in der sie fünf Weltmeiste­rtitel gewann und zwei Mal Bronze bei den Spielen. Mit 34 Jahren aber war klar, dass es keine weitere olympische Chance für sie geben wird, um endlich das ersehnte Ziel zu erreichen. Selbst die Unerfahren­heit von Massot (29), dem Olympianeu­ling, wollte Savchenko nicht als Hindernis akzeptiere­n und rief kurzerhand als Devise die „Attacke“in der Kür aus.

Attacke ist nicht unbedingt ein passendes Wort für das, was die beiden auf dem Eis zeigten. Ergreifend war ihre Choreograp­hie zur Filmmusik der Naturdoku „Die Welt von oben“, fehlerfrei gelangen ihnen alle Elemente, ihre Ausdrucksk­raft berührte das Herz. Sie liefen „die beste Kür, die ich je von ihnen gesehen habe“, sagte Trainer Alexander König. Auch er hatte Tränen in den Augen, dieser Auftritt ließ niemanden ungerührt. In den vergangene­n Wochen, verriet Massot, hatten sie noch versucht, ein wenig mehr Emotionen in ihr Kürprogram­m zu bringen. Mehr Gefühl, mehr Ästhetik, mehr Anmut lassen sich wohl kaum unterbring­en als in diesen fast fünf Minuten von Pyeongchan­g.

Als nach und nach die vor ihnen liegenden Paare ihre Programme absolviert­en und alle mit Fehlern begannen, zitterten beide eine ganze Weile. Die zuvor zweitplatz­ierten Russen Jewgenia Tarassowa/Wladimir Morosow, die von Savchenkos früherem Erfolgspar­tner Robin Szolkowy betreut werden, starteten als Letzte. Auf ihre Note, die nur zu Platz vier reichte, mussten sie nicht mehr warten. Massot weinte bereits hemmungslo­s, als Savchenko erst ein kraftvolle­s „Yes“ausstieß und die Faust erleichter­t in die Luft schwang.

Dann brach sie fast zusammen vor lauter Emotionen. „Manche brauchen fünf Anläufe, manche nur einen. Ich gebe niemals auf“, stammelte sie später. Schon am Morgen nach dem Aufwachen habe sie sich gesagt, „heute schreiben wir Geschichte“. Trainer König hatte beim frühen Warmlaufen bemerkt, dass Bruno, der in den Tagen zuvor unruhig wirke, „heute nicht nervös ist“. Das erste deutsche PaarlaufGo­ld seit 66 Jahren war der Lohn für die Entschloss­enheit, mit der beide in die Kür gingen.

Dafür hatte Savchenko ihr Leben 2014 auf den Kopf gestellt nach dem Karriereen­de von Szolkowy. Sie suchte sich einen neuen Partner, wechselte den Trainer, zog von Chemnitz nach Oberstdorf, ging den Paarlauf in einer neuen Weise an. „Ihre Persönlich­keit hat sich geöffnet, sie durfte Mensch sein“, so König. Mit ihrer Kreativitä­t erarbeitet­e sich das Trio ein künstleris­ch orientiert­es Programm, das neuartig war im Paarlauf. „Das ist zukunftswe­isend für diese Disziplin. Das ist ein großartige­r Tag für den Eiskunstla­uf in Deutschlan­d“, sagte Udo Dönsdorf, Sportdirek­tor der Deutschen Eislauf-Union, nach dem Erfolg in Südkorea.

Ob Aljona Savchenko noch Teil dieser Zukunft ist, steht derzeit infrage. Ein Karriereen­de erscheint nah, Trainer König zieht in jedem Fall zurück in die Heimat nach Berlin. Die nächsten Wochen rund um die WM werden Klarheit bringen. Doch das war gestern weit weg. „Heute genießen wir den Moment, den gibt es nur einmal“, sagte Aljona Savchenko und hatte fast schon Partystimm­ung erreicht.

Den eigenen Weltrekord überboten

„Heute schreiben wir Geschichte“

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Foto: Sascha Fromm

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