Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Lichtgestalt der Moderne
Harry Graf Kessler, Weimars großartigem Gönner, zum . Geburtstag
Weimar. Er war ein Anstifter, Anreger und Avantgardist von hohen Graden, ein Kunstsammler und Mäzen par excellence, ein Ästhet, Intellektueller, Schriftsteller und Weltmann, wie er im Buche steht – eine Lichtgestalt der Moderne: Harry Clemens Ulrich Graf von Kessler (1868-1937). Heute gedenkt die wissende, wache Kunstwelt seiner, aus Anlass des 150. Geburtstages. In Thüringen indes, wo Kessler jahrelang als Rädelsführer des „Neuen Weimar“für Akzente und Aufregung sorgte, hat man den hohen Termin offenkundig verschlafen. Die Klassik-Stiftung widmet ihm nicht einmal einen Vortragsabend.
Nur draußen auf dem Dorfe, tief im Weimarer Land, arbeitet der freie Kurator und Autor Hans-Dieter Mück seit einem halben Jahr berserkerhaft an einer umfassenden, zweibändigen Biografie. Unglaublich: Noch während er schreibt, korrigiert er bereits die ersten Fahnen. „Band Eins ist fast fertig!“frohlockt Mück. Im Juni soll er in der Weimarer Verlagsgesellschaft erscheinen. Aber neben der Freude über diesen wohl gelingenden Bravour-Akt merkt man dem erfahrenen Kunst-Fachmann eine schier grenzenlose Bewunderung für den fast vergessenen Heros der Moderne an.
Mück kann auf eigene Vorarbeiten – Kataloge, Bücher, Ausstellungen – sowie auf Kesslers Tagebücher und ersten Band einer Autobiografie zurückgreifen, musste allerdings gerade die ersten Lebensjahre seines Helden akribisch nachrecherchieren. „Das war auch für mich Neuland“, gesteht er. „Schon in der Zeit bis zum Abitur in Hamburg wurden alle Weichen gestellt.“
Kessler kam auf der Sonnenseite des Lebens zur Welt. In Paris geboren, wuchs er dreisprachig auf. Der Vater, ein reicher, deutscher Banker mit riesigen Besitzungen in Kanada, und die Mutter, eine bildschöne, irische Schauspielerin, die sogar Kaiser Wilhelm I. den Kopf verdrehte, ließen Harry eine Erziehung zum Weltmann angedeihen. Schulzeit in Ascot, England, und am elitären Johanneum in Hamburg. Jura-Studium in Bonn und Leipzig. Ab 1893 bewegt er sich in Berlin in den progressivsten Kunstkreisen, ist bald mit Klinger und Liebermann, Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann, Richard Strauss und dem späteren Außenminister Walter Rathenau befreundet. Zwei Jahre später sehen wir ihn als Redakteur und Mitherausgeber des „Pan“, einer maßgeblichen europäischen Zeitschrift für Kunst und Literatur. In dieser Eigenschaft besucht er Verlaine in Paris und Elisabeth Förster in Weimar, plant eine bibliophile Ausgabe von Nietzsches „Zarathustra“, erfährt von dem Ansinnen, das Kunstgewerbe im Großherzogtum zu fördern, und vermittelt einen belgischen Designer in die Ilmstadt: Henry van de Velde. Als er das Vermögen des Vaters erbt, lässt Kessler sich ebenfalls in Weimar nieder, hebt die Cranach-Presse aus der Taufe und wird 1903 ehrenamtlicher Leiter des Museums für Kunst und Kunstgewerbe. Im selben Jahr gründet er den Deutschen Künstlerbund.
1894 legt er seine private Kunstsammlung an. „Das Who’s Who der
Kunstgeschichte ab 1870 ist darin versammelt“, sagt Mück mit leuchtenden Augen. Kessler begeistert sich auf den zweiten Blick für einen Norweger, der schon in Berlin Skandal gemacht hat, und nimmt ihn als Protegé unter die Fittiche. Edvard Munch bedankt sich mit acht famosen Kessler-Porträts. Als Mäzen hat Harry Graf Kessler außerdem Künstler wie Maillol, Rodin, Klinger und Beckmann, Becher und Hugo von Hofmannsthal finanziell unterstützt.
Zumeist besuchte er sie – als Vielreisender zwischen London, Paris, Berlin und Weimar – im Atelier, und selten trog ihn sein wacher Sinn für das avantgardistische Neue. Das fand Niederschlag in der eigenen Sammlung: Kessler besaß zum Beispiel die zweite Version von van Goghs „Dr. Gachet“sowie mehrere Cézannes, Bonnards, Rodins und Gauguins und kaufte als erster Deutscher 1896 ein Werk von Renoir – laut Mück insgesamt rund 150 Meisterwerke
der klassischen Moderne. Die Sammlung wurde später von den Nazis konfisziert und ist heute in alle Winde verstreut.
Kessler ließ sich nicht lumpen, in Weimar trat er mit einer Morgengabe von 100 000 Reichsmark an und präsentierte all seine Helden in Ausstellungen: Maler wie Munch, Klinger, Maillol, Rodin, Gauguin, Monet. Den einzigen Monet, der sich heute im Bestand der Klassik-Stiftung befindet, verdanken wir Kessler. Das Bild hat das Herzogtum damals nicht einen roten Heller gekostet, denn Kessler zahlte stets aus eigener Tasche oder besorgte das nötige Geld von Stiftungen – ein Netzwerker der nobelsten Sorte, bewegte er sich weltgewandt in den höchsten Kreisen. „Sein Ausstellungsprogramm heute in Weimar zu wiederholen“, so Mück, „wäre ein Traum.“
Trotzdem kam es 1906 zum Bruch. „Der Skandal“, so Mück, „wurde eigentlich künstlich gemacht.“Auguste
Rodin schenkte Kessler 14 erotische Aquarelle, eines davon hatte er unbedacht mit einer Widmung für Großherzog Wilhelm Ernst versehen. Daran nahm das höfische Weimar gern Anstoß und trieb den Künstler mit Schimpf aus der Stadt. Kessler kehrte ihr ebenfalls den Rücken zu. Tatsächlich, so Mück, war die Erregung nur Vorwand, denn längst war der progressive Kunst-Aktivist den reaktionären Hofschranzen ein Dorn im Auge; sogar aus Berlin – nun regiert vom engstirnigen Wilhelm II. – betrachtete man Kesslers Umtriebe mit Argwohn.
1916 avancierte Kessler zum Kulturattaché in der Schweiz, kümmerte sich weiterhin um „seine“Künstler und führte sogar 1917 eine Geheimdiplomatie zwecks Separatfriedens mit den Franzosen. Später sehen wir ihn noch als Pazifisten und Völkerbund-Vorkämpfer; 1930 schreibt er einen offenen Brief „Frick über Deutschland“gegen die Nazis, als der Thüringer NSDAP-Innenminister das Weimarer Schloss von „entarteter Kunst“säubern lässt. Mück: „Man hielt es im Reich für eine Weimarer Bagatelle.“
1933 räumt Kessler seine Berliner Wohnung, 1935 wird sein Weimarer Haus samt dem Mobiliar van de Veldes zwangsversteigert. Harry Graf Keßler stirbt 1937 in Lyon und wird auf dem Père Lachaise in Paris zu Grabe getragen. Beklommen schließt Mück: „Keiner seiner Protegés kam zur Trauerfeier.“
Mit Förster-Nietzsche und van de Velde im Bunde
Hans-Dieter Mück: „Viel flaniert, gelesen, gesehen, gelebt“. Harry Graf Kessler – Die Biografie, Band . ca. S., über farb. Abb., Weimarer Verlagsgesellschaft, Euro. Erscheint im Juni