Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Wie eine Rasierklinge zum Welterfolg wurde
Millionen Dollar lässt sich ein US-Startup die Übernahme eines kleinen Klingenherstellers in Thüringen kosten. Der Beginn einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte
Eintausend Grad. Der Stahl muss viel erdulden. Gleich nach der Hitze folgt der Kälteschock, das bringt Härte und Haltbarkeit. Die silbernen Bänder werden gestanzt, geschliffen und versiegelt, während sie rasselnd durch die riesigen Maschinen-Anlagen rasen.
Das eigentliche Geheimnis der Produktion im südthüringischen Eisfeld liegt im Schliff. Der macht die Rasierklingen von Harry’s so außergewöhnlich – scharf und auch langlebig.
Als gotischen Bogen bezeichnen Fachleute diese besondere Technologie, die Schneide der Rasierklinge erinnert dabei an die Spitze eines Kirchenfensters. Ein kleines Kunstwerk auf einem tausendstel Millimeter.
„Auf diese Technik sind wir natürlich besonders stolz“, erzählt Geschäftsführer Michael Hirthammer beim Gang durch die Werkshallen. Nur wenige Fabriken weltweit verfügen über dieses Know-how. Das ganze Verfahren sei nur durch das perfekte Zusammenspiel von traditionellem Handwerk und modernster Produktion möglich. „So können wir die hohe Qualität jeder einzelnen Klinge gewährleisten.“
Das hat sich rumgesprochen. Mit ihren Produkten können sich die Thüringer mittlerweile auch gegen die Branchengrößen Gillette und Wilkinson behaupten. „Denn wir sind deutlich günstiger – bei gleicher Qualität“, wirbt Hirthammer. Die Nassrasierer liegen in den Regalen vieler großer Märkte, beispielsweise bei Lidl oder DM. „Private Label“heißt das in der Wirtschaftswelt.
Zusätzlich stelle das Unternehmen im Landkreis Hildburghausen auch Industrieklingen her, erklärt der Geschäftsführer weiter. Jedoch sei der Beitrag der Sparte am Gesamtumsatz eher gering. „Unser klassisches Geschäft ist und bleibt der Männerbart.“
Das klackernde Geräusch der Anlagen ist nur noch entfernt zu hören. In der Vakuumkammer wirkt die Kraft des Nichts. Dort erhalten die empfindlichen Schneiden eine Chromschicht, in die sich später das Teflon einbrennt – bei 300 Grad. Wie scharf die Klingen sind, zeigt sich am monatlichen Pflasterverbrauch.
Die Maschinen in Eisfeld kennen keine Pause. Unablässig spucken sie Rasierklingen aus. Parallel dazu werden die Kunststoffteile hergestellt, die Rahmen und Gehäuse. Am Ende wird jedes finale Produkt mit einem individuellen 3D-Code versehen, mit dem man die Herstellung nachvollziehen kann. Produkthaftung ist ein großes Thema, gerade auch in den USA.
Im Seeweg 4, dem Eisfelder Firmensitz, kann man auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken: 1920 von Albin Ritzmann gegründet, wurden die Werke nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den VEB Feintechnik Eisfeld umgewan-
delt. Nach der Wiedervereinigung ging die Firma an einen Südtiroler Investor, der sie 2007 weiterverkaufte.
Seit vier Jahren gehört das Thüringer Traditionsunternehmen nun zum Start-up Harry‘s, einem hippen Online-Versand,
der Rasierklingen und Pflegeprodukte herstellt und weltweit vertreibt.
Rund 100 Millionen Dollar ließen sich die Amerikaner Andy Katz-Mayfield und Jeffrey Raider die Übernahme in der ostdeutschen Provinz kosten.
Weitere 22,5 Millionen flossen in die Modernisierung des Maschinenparks. Nicht kleckern, sondern klotzen, das ist eben US-Wirtschaftskultur.
Was nicht wenige als Größenwahn abtaten, entwickelte sich zu einem Glücksfall für alle Be-
teiligten. Bereits ein Jahr nach dem Zusammenschluss weihte die Firma nur wenige Hundert Meter vom Stammsitz ein neues Produktionsgelände ein, 2017 folgte die zweite Halle. „Mittlerweile sind auch dort die Kapazitäten gut ausgelastet, so dass be-
reits die nächste Erweiterung in Planung sind“, verrät der 55-jährige Hirthammer.
Rund 550 Mitarbeiter sorgen dafür, dass nur erstklassige Ware das Haus verlässt – made in Thüringen. Und dies wiederum erfordert, dass die Maschinen ständig auf dem neuesten Stand sind. „Insgesamt investieren wir pro Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag“, verrät Hirthammer weiter. Auch auf die Erweiterung des Sortiments und die Schulung der Mitarbeiter wird das Augenmerk gelegt. Mittlerweile sei man einer der größten Arbeitgeber der Region.
Der Parkplatz musste deshalb deutlich vergrößert werden und die Belegschaft kann sich über eine neue Kantine freuen.
Maren Kroll ist permanent auf der Suche. „Mittlerweile ist es fast unmöglich, Arbeitskräfte in der Region zu bekommen“, erzählt die Personalchefin. Das Unternehmen sucht in den angrenzenden Bundesländern, Stellen für Spezialisten würden bundesweit ausgeschrieben, so Kroll. Unterstützung gibt es vom Land und von der Gemeinde. Darüber sei man sehr glücklich. „Und wir werden unsere Kapazitäten weiter aufbauen“, verspricht die 38-Jährige, die einst von Zalando zu Harry‘s wechselte.
Immer weiter intensiviert wird auch die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern in den USA. Neue Produkte werden in gemischten Teams entwickelt, „regelmäßig gibt es Videokonferenzen“, so Kroll. Denn es sei extrem wichtig, den Arbeitsstil des jeweils anderen zu kennen. „Nur so können wir auch zusammenwachsen – und zusammenarbeiten.“Englischkurse in Eisfeld und Deutschkurse in den USA oder gegenseitige Besuche sind mittlerweile Normalität.
Nach dem Zusammenschluss hat man damit begonnen, die Hierarchie-Ebenen auszudünnen. „Die wichtigen Entscheidungen müssen in den Fachbereichen fallen, nur dort kann man die Auswirkungen auch optimal beurteilen“, erklärt Geschäftsführer Hirthammer. Keiner sei beispielsweise vor Kritik sicher. „Aber der Umgang miteinander muss fair sein – das ist für unsere Firmenkultur sehr wichtig“, schließt Maren Kroll an. Und: Alle Diskussionen würden öffentlich geführt. Das fördert eine vorbildliche Streitkultur.
Die Kombination aus traditionellem Werk und Start-up ist etwas Besonderes. Während die Thüringer ihre technischen Fertigkeiten sowie ihr Qualitätsbewusstsein einbringen, haben die Amerikaner ihre Stärken vor allen Dingen im Designdenken und in der schnellen Umsetzung von Ideen. „Und je stärker sich die beiden Kulturen ergänzen, je erfolgreicher wird Harrys am Ende sein“. Auch in Deutschland, wo die Marke über kurz oder lang ebenfalls den Markt erobern soll.
Die Belegschaft auf beiden Seiten des Atlantiks hört so etwas nur zu gerne, denn alle Mitarbeiter haben auch Anteile an dem Unternehmen. Als Motivationshilfe.