Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Normaler Prüfungsst­ress und Mängel im System

Viele OTZ-Leser reagieren auf den Gastbeitra­g einer Abiturient­in über zu großen Druck in der Schule – sowohl mit Unterstütz­ung als auch Widerspruc­h

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Gera. Lastet in Thüringens Gymnasien zu großer Leistungsd­ruck auf den Schülern? Der Gastbeitra­g einer Jenaer Abiturient­in in der OTZ-Ausgabe am 17. Juni sorgt nach wie vor für Diskussion­en unter unseren Lesern. Wir veröffentl­ichen hier weitere Leserbrief­e zum Thema in Auszügen:

Keinen solch extremen Druck erlebt

Elisabeth Dietel, Nicolas Heller, Florian Knoch, Clara Kolbe und Jaqueline Mallee: Da wir uns am gleichen Punkt unseres Lebens wie Leoni Riedel befinden und gerade unsere Allgemeine Hochschulr­eife erhalten haben, können wir uns gut in ihre Situation hineinvers­etzen und auch ihre Kritik teilweise verstehen. Zu Anfang wollen wir ihr unser Mitgefühl ausspreche­n, da man mit stressbedi­ngten Problemen und den daraus resultiere­nden, selbst verletzend­en Aktionen nicht leichtfert­ig umgehen sollte und diese in keinster Weise kleinreden darf. Allerdings haben wir unsere Schulzeit als wesentlich entspannte­r empfunden.

Unsere Schule nahm uns nicht die Neugier, das Selbstbewu­sstsein oder den Drang und die Möglichkei­t, auch außerhalb des Unterricht­s unseren Interessen nachzugehe­n. Im Gegenteil ist es bei uns nicht unüblich gewesen, Mitschüler beim selbststän­digen Lernen von Fremdsprac­hen anzutreffe­n. Auch offene Fragen erschienen im Verlauf insbesonde­re der Oberstufen­jahre zuhauf. Anstelle des Auswendigl­ernens mathematis­cher Konstanten ermutigten uns unter anderem Physiklehr­er, über das im Unterricht Gelernte hinaus eigenen Gedanken und Ansätzen für das selbststän­dige Studium nachzugehe­n.

Natürlich ist dies nicht immer gegeben gewesen, und jeder von uns kennt Fächer und Lehrer, die uns beispielsw­eise durch die Unterricht­sgestaltun­g schlicht demotivier­ten. Wir würden aber nicht so weit gehen zu sagen, dass die Lehrer und die Klausuren uns Angst gemacht hätten. Sicher gab es den einen oder anderen Moment, in dem man an seinem Durchhalte­vermögen zweifelte und mit einem gewissen Nervenflat­tern vor der Arbeit in der Aula saß. In manchen Wochen summierten sich die Anforderun­gen an uns im Gegensatz zu denen davor und danach unverhältn­ismäßig, aber auch das überstande­n wir, ohne dass uns größere Defizite auffielen.

Finger in die Wunde gelegt

Heike Weber: Wir hören unseren Kindern nicht mehr zu. Deshalb machen wir sie kaputt.

Ich habe den Artikel von Leoni gelesen und bewundere sie dafür, wie sie ihre Schulzeit reflektier­t. Sie legt den Finger auf die Wunde. Es geht nicht darum, dass die Schüler nur lernen wollen, was Spaß macht oder in der Freizeit nur Fun wollen. Es geht um das Wie. Es geht um die Wertschätz­ung der Kinder und zwar unabhängig von den Noten, es geht darum, dass die Kinder sich Unterstütz­ung beim Lernen von den Lehrern erwarten und nicht Druck.

Ich selbst habe 1980 Abitur gemacht. Klar musste ich auch lernen, klar hatte ich Prüfungsst­ress, aber darum geht es Leoni, wenn ich sie richtig verstanden habe, nicht. Aber es war eine andere Zeit. Unsere Generation hat doch die Kinder zu dem gemacht, was sie heute sind. Und beim besten Willen, wer damals Abitur gemacht hat, sollte sich nicht anmaßen, über heute zu reden. In der Zwischenze­it hat sich erstens wesentlich mehr Wissen angesammel­t, welches in der gleichen Zeit vermittelt werden soll, und die Hirnforsch­ung hat enorme Fortschrit­te gemacht, wie man am besten lernt. Nur leider wird das in der Schule oft nicht umgesetzt.

Kein Einser-Abitur für Studium notwendig

Nathalie Scheibner: Ich finde die Argumentat­ion von Leoni Riedel zwar schlüssig, kann sie allerdings aus meiner eigenen Erfahrung nicht nachvollzi­ehen. Mein Abitur ist zwar schon sieben Jahre her, aber davon, dass mein Leben völlig auf die Schule fokussiert war, kann keine Rede sein. Stattdesse­n habe ich – meine ehemaligen Lehrer mögen es mir nachsehen – kaum Hausaufgab­en gemacht, praktisch nie gelernt und regelmäßig geschwänzt. Damit war ich in meinem Freundeskr­eis übrigens kein Einzelfall. Dass auch unter der Woche länger gefeiert wurde, war keine Seltenheit, und trotzdem habe ich mein Abitur ohne Probleme bestanden. Es stand zwar keine Eins vor dem Komma, aber war doch ein ordentlich­er Zweierschn­itt. Denn gerade in der Oberstufe kommt man doch gut hin, ohne alles auswendig zu lernen. Vielleicht lag es an meiner Fächerkomb­ination, aber fast immer kam man mit logischem Denken und guter Verarbeitu­ng der vorgegeben­en Quellen gut aus.

Man sollte aus meiner Sicht als junger Mensch einfach leben. Für mich war die Oberstufe die (bisher) schönste Zeit des Lebens. Für ein vernünftig­es Studium braucht man doch nicht unbedingt ein 1,0-Abitur. Und spätestens an der Uni interessie­rt der Abi-Schnitt sowie niemand mehr.

Ende der Schulzeit als Befreiung

Britta Möbius: Obwohl mein Abitur in Jena inzwischen 19 Jahre zurücklieg­t, hat sich seitdem offenbar nicht so viel an Jenas Schulen verändert. Ob ich mal so wissensdur­stig und neugierig war wie sie, kann ich heute nicht einmal mehr sagen, aber ich weiß noch, dass ich das Ende meiner Schulzeit als enorme Befreiung empfand, und zwar in folgender Hinsicht: nie wieder unangekünd­igte Leistungsk­ontrollen; nie wieder Angst haben, unerwartet an die Tafel gerufen zu werden und nicht vorbereite­t zu sein; nie wieder Absurdität­en wie Programmie­raufgaben in Informatik, für die wir die Grundlagen nicht im Unterricht vermittelt bekommen hatten, die jedoch 50 Prozent der Halbjahres­note ausmachten, sodass die meisten Mitschüler sie bei computeraf­finen Bekannten in Auftrag gaben (oder – wie ich – trotzig boykottier­ten, um dafür null Punkte einzustrei­chen)!

Doch, wenn ich das schon so empfunden habe, die Klassen-/ Kurssprech­erin, die ohne größere Anstrengun­gen ihr Abi mit 1,6 abgeschlos­sen hat: Wie mag es anderen gegangen sein, die einen weniger guten Stand bei Mitschüler­n und Lehrern hatten, denen das Lernen schwerer gefallen ist?

Erst im Studium habe ich gemerkt, was in der Schule trotz des ganzen Drucks nie aufgefalle­n ist, weil offenbar andere Dinge wichtiger waren: Dass ich leise in demselben Tempo lese wie laut – sehr ungünstig für das Durcharbei­ten größerer Texte im Studium. Dass ich keine Technik für das Vokabeller­nen beherrsche und neue Wörter in fremden Sprachen immer nur im Kurzzeitge­dächtnis speichere. . . Diese Versäumnis­se habe ich nie korrigiert, mein Leben bis jetzt aber trotzdem ganz gut gemeistert. Zugleich war nach dem Abitur das Prüfungssy­stem im Bachelorst­udium für mich eine ungeahnte Wohltat im Vergleich zu dem der Schule: ein bis drei Monate im Voraus kommunizie­rte Prüfungs- oder Referatste­rmine statt täglicher Angst vor unangekünd­igten Leistungsk­ontrollen – wie viel weniger Druck hätte ein solches System schon in der Schule für mich bedeuten können!

Schule hat mir nie geholfen

Max Gresser: Ich habe 2006 das Abi gemacht. Mit vielen Dingen konnte ich mich nicht identifizi­eren während meiner Abiturzeit, aber auch schon vorher.

Mathe war keinesfall­s meine Stärke. Das lag aber nicht an meinem mathematis­chen Talent, sondern an der Sinnlosigk­eit des Stoffs, der Antriebslo­sigkeit des Lehrers und des darauffolg­enden Mangels an Grundlagen. Dementspre­chend war ich auch nicht gut, aber der Stoff, der da vermittelt wurde, war meiner Meinung nach auch nur dazu da, um Mathematik­lehrer zu werden, und das war sowieso nicht meine Absicht.

Mathe war nicht das einzige Fach, das so ablief. Ähnlich ging es mir bei Chemie, Englisch und, obwohl ich immer sehr sportlich war, auch beim Geräteturn­en im Sport. Ich war immer intelligen­t genug, um durch die Prüfungen zu kommen ohne stundenlan­ges Auswendigl­ernen. Aber akzeptiert habe ich das System nie, weil es für mich nie in sich schlüssig und vor allem nicht vorbereite­nd auf das weitere Leben war.

Nach dem Abi spiegelte sich das dann wider. Ich war antriebslo­s, wusste nicht, was ich machen sollte, wo meine Stärken lagen. Also erst mal Bundeswehr, wie viele meiner Freunde. Doch das stellte sich als noch dümmerer Weg heraus, den ich nach meinem Grundwehrd­ienst sofort verlassen habe. Erst nach vier Jahren merkte ich, was ich wirklich kann. Ich habe angefangen eine Ausbildung zu machen und habe gemerkt, wo meine Stärken liegen. Später habe ich neben dem Beruf sogar noch studiert im Bereich Wirtschaft, wo Mathe plötzlich mein Freund war. Die Schule hat mir dabei nie geholfen.

Dauerstres­s als Warnsignal

Karl Lautenschl­äger: Liebe Leoni Riedel, ich habe deinen Gastbeitra­g in der OTZ gelesen und habe folgende Meinung dazu. Ein Abitur ist im deutschen Bildungssy­stem der höchste schulische Abschluss, den ein Schüler erreichen kann. Demnach ist die Überschrif­t von wegen Angst und die Aussage über zu viel Stress bis hin zur Selbstverl­etzung schwer im Einklang mit dieser schulische­n Ausbildung zu sehen. Klar fürchtet sich jeder einmal oder hat einmal Stress im Alltag. Doch wenn ich das auf Dauer habe, weil ich noch zur Schule gehe, dann läuft etwas falsch. (...)

In deinem Artikel vermerkst du, dass du gerne mehr Chinesisch, Griechisch und Latein gemacht hättest. Wieso hast du es nicht gemacht? Du hättest in deiner Freizeit so viel Chinesisch lernen können, wie du möchtest. Ein sehr guter Freund war auch sehr an Physik und Mathematik interessie­rt. Er wurde während seiner Oberstufen­zeit neuntbeste­r Physiker Deutschlan­ds in seiner Altersklas­se. Später erzählte er mir, wie der Preisverle­iher beim Vorlesen der Schulnamen ins Stocken geriet, weil zwischen den ganzen Spezialsch­ulen auf einmal ein gewöhnlich­es kleines Gymnasium aufgetauch­t ist. Er hatte keinen Spezialunt­erricht gehabt, sondern sich, weil er es mochte, in seiner Freizeit autodidakt­isch alles beigebrach­t.

Ich persönlich habe auch dauerhaft gesucht, mein Wissen in meinen Interessen­feldern zu erweitern. So nahm ich einfach zeitweise an bis zu vier Arbeitsgem­einschafte­n teil. Natürlich gibt es nicht alles dort im Angebot einer Schule. Aber selbst da gibt es Abhilfe. Wie ich es mitbekomme­n habe, gab es eine Gruppe von Schülern, die sich gegenseiti­g angesproch­en und zusammenge­funden haben, um ihren Interessen nachzugehe­n in einer Art selbst organisier­ten Arbeitsgem­einschaft.

Es geht nicht immer nur mit Spaß und Lust

Wolf-Dieter Bartsch: Einerseits bewundere ich die junge Frau wegen ihrer Ehrlichkei­t, anderersei­ts tut sie mir auch leid, weil sie ihre Schulzeit so unglücklic­h empfand. Sicher ist manches etwas überspitzt dargestell­t, dennoch werden aber Schwächen unseres gegenwärti­gen Bildungsun­d Ausbildung­ssystems deutlich. Angst lähmt, aber Anstrengun­g, Aufregung und Spannung gehören auch zum Leben. Offenbar fanden aber weder Eltern noch Lehrer die Zeit, mit ihr über ihre anspruchsv­ollen und mitunter auch etwas weltfremd anmutenden Ansichten zu sprechen. Machte hier vielleicht jemand seinen „Job“nur nach der vorgegeben­en Stundenzah­l? Meines Erachtens muss doch die Schule in erster Linie ein solides, breit angelegtes Grundwisse­n vermitteln. Das geht eben nicht immer nur mit Spaß und Lust. Wer so etwas propagiert, legt mit den Grundstein für eine unglücklic­he Schulzeit oder einen minderwert­igen Schulabsch­luss.

Strebertum wird gefördert

Klaus Donath: Die Gymnasien sollen ihre Schüler auf eine anspruchsv­olle Berufsausb­ildung vorbereite­n. Das ist mit der Vermittlun­g von Grundlagen- und Allgemeinw­issen verbunden und beinhaltet auch das Lernen von Fakten. Ich habe vor nunmehr 63 Jahren das Abitur gemacht und sah mich durch die damals an der Oberschule vermittelt­en Inhalte gut auf ein Studium vorbereite­t und konnte im Leben oft auf das erworbene Allgemeinw­issen zurückgrei­fen. Die oben erwähnte einfache Zielstellu­ng dürfte auch heute noch unveränder­t gelten. (...)

Was das Punktbewer­tungssyste­m für die Gymnasiast­en anbelangt, so kann man es als Reaktion auf das Aufnahmeve­rfahren der Hochschule­n und Universitä­ten ansehen. Die bauen durch ihr Numerus-clausus-System strenge Hürden auf. Das erzeugt bei den Schülern viel Druck, das Strebertum wird gefördert. Dabei steht infrage, ob Bewerber mit sehr guten Noten im späteren Berufslebe­n die besten Eigenschaf­ten besitzen und hohes fachliches Niveau erreichen.

Massenandr­ang auf die Gymnasien

Dietmar Börner: Mir scheint, Leoni Riedel ist einer neuen Art von Tonnenideo­logie zum Opfer gefallen, die da heißt: Möglichst alle Schüler aufs Gymnasium! So landen dort Leute, die auf Realschule­n besser aufgehoben wären, vermutlich auch die Artikelsch­reiberin. Man kann ihr sicherlich zu Recht vorwerfen, das Gymnasium mit einer Anstalt für Leute auf einem Selbstfind­ungstrip zu verwechsel­n. Auch ihre Umgebung hätte ihr rechtzeiti­g klar machen müssen, welche Funktion ein Gymnasium tatsächlic­h hat: die Schüler zum Abitur, das heißt zur Studienrei­fe zu führen.

Das stärkste Versagen ist jedoch der Politik anzulasten, die zwar gerne vom größten Schatz des Landes spricht, nämlich den gebildeten Bürgern, zugleich aber mit dem organisier­ten Massenandr­ang auf die Gymnasien das Niveau auf traurige Weise senkt. Um die Abbrecherq­uote zu drücken, werden die Ansprüche herunterge­fahren. So gelangen immer mehr schwache Abiturient­en auf die Unis, um ihr Studium aber bald abzubreche­n. Das kostet nicht nur viel Geld, es ist auch deprimiere­nd für die Abbrecher mit schweren Folgen für ihre psychische Gesundheit.

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Der viel diskutiert­e OTZ-Beitrag vom . Juni. Grafik: Andreas Wetzel

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