Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Der tiefe Fall des Kardinals
Finanzchef des Vatikans wegen Kindesmissbrauchs angeklagt. George Pell aus Australien bestreitet die Vorfälle
Am Morgen ziehen dunkle Wolken über dem Petersplatz auf – ein ungewöhnliches Schauspiel am sonst so stahlblauen Sommerhimmel über Rom. Kardinäle aus aller Welt sind zusammengekommen, um das katholische Hochfest Peter und Paul zu begehen. Nur einer muss fernbleiben und sich der Öffentlichkeit stellen: George Pell. Der Finanzchef des Vatikans, einer der engsten Vertrauten von Papst Franziskus, muss sich gegen die wohl schwersten Vorwürfe seiner Amtszeit wehren. Es geht um Kindesmissbrauch. Mit Pell wird einem der ranghöchsten Männer im Vatikan vorgeworfen, vor Jahrzehnten, zu seiner Zeit als Priester und Erzbischof in Australien, Jungen missbraucht zu haben. Seit Langem kursieren die Anschuldigungen gegen ihn. Während es zunächst um Vertuschung von Kindesmissbrauch in der australischen Kirche ging, geriet Pell zuletzt direkt wegen angeblichen Kindesmissbrauchs in den Fokus.
Pell taucht am Donnerstag im Pressesaal des Vatikans neben dem etwas bleichen Papstsprecher Greg Burke auf und verkündet, sein Amt vorübergehend ruhen zu lassen, um sich am 18. Juli vor Gericht in Australien zu verteidigen. Die Kameras klicken. Der 76-Jährige spricht von Rufmord und beteuert seine Unschuld.
Zwar hat Franziskus seit seinem Amtsantritt eine Reihe von Maßnahmen verkündet, um die „Krankheit“Kindesmissbrauch auszumerzen. Seit noch unter seinem Vorgänger Benedikt XVI. bekannt wurde, dass katholische Geistliche massenweise Kinder missbraucht haben und das Thema über Jahrzehnte systematisch vertuscht wurde, hat der Papst versucht, Täter zu belangen. Doch für Kritiker war das wenig überzeugend; für sie blieb es bei nicht viel mehr als Lippenbekenntnissen.
Pell, der einst die Chance, Profisportler im Australian Football zu werden, zugunsten des Priesterberufs aufgab, studierte in Melbourne, Rom und Oxford. Er war Erzbischof von Melbourne und später von Sydney, bevor er nach Rom berufen und dort 2014 zum Leiter der neu geschaffenen Aufsichtsbehörde für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Vatikans ernannt wurde.
Paradoxerweise war Pell das erste führende Mitglied der katholischen Kirche, das 1996 Vorwürfe von Kindesmissbrauch gegen katholische Priester untersuchte. Als Erzbischof von Melbourne installierte er die sogenannte Melbourne Response.
2014 sagte er selbst vor einer von der australischen Regierung eingesetzten Kommission aus und entschuldigte sich öffentlich bei einem früheren Ministranten, der in den 70er-Jahren von einem Priester missbraucht worden war.
Die Vorwürfe gegen Pell hatten sich im Mai mit der Veröffentlichung des Buches „Cardinal: The Rise and Fall of George Pell“konkretisiert. Die australische Journalistin Louise Milligan hatte zwei Männer interviewt, die behaupten, von Pell in den 70ern missbraucht worden zu sein. Außerdem berichtet sie von zwei Chorknaben, die Ähnliches zu Protokoll gaben. Einer davon sei 2014 an einer Überdosis Drogen verstorben. Die Polizei selbst gab am Donnerstag keine Details über die Fälle bekannt, die vor Gericht angesprochen werden sollen.
„Das Thema ist brisant, unabhängig von Unschuld oder Schuld von Kardinal Pell“, sagt der Religionssoziologe Michael Ebertz von der Katholischen Hochschule Freiburg. Vor allem erwecke die Kirche nicht den Eindruck, „aus eigener Kraft die Selbstbeschädigung“zu überwinden. Sie reagiere vielmehr auf Ermittlungen staatlicher Behörden, statt selbst das Zepter in die Hand zu nehmen und mit Missbrauch transparent und offensiv umzugehen.
Anschuldigungen kursieren seit langem