Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Kassensyst­em setzt falsche Anreize

Die sprunghaft­e Zunahme bestimmter Krankheite­n hat nicht immer mit dem wahren Zustand der Menschen zu tun – sondern mit Geld

- Von Volkhard Paczulla

Erfurt. Deutschlan­d degenerier­t. Seine Bürger verfetten und leiden immer häufiger an chronische­n Schmerzen. Der Rest verfällt in Depression.

Dieses Zerrbild ließe sich mit einem Lächeln beiseite wischen, wenn es nicht Belege dafür gäbe. Statistisc­he Belege. Rund sieben Millionen gesetzlich Krankenver­sicherte leiden an Depression­en. Das ist ein Anstieg von fast 60 Prozent in nur vier Jahren. Fast vier Millionen Menschen haben chronische Schmerzen. Vor vier Jahren waren es nur halb so viele. Ähnlich verläuft die Entwicklun­g bei Lungenkran­kheiten und bei DemenzDiag­nosen. Was ist da los?

Die Siemens Betriebskr­ankenkasse (SBK), die offen ist und deshalb bundesweit 786500 zahlende Mitglieder hat, glaubt die Antwort gefunden zu haben. Die Leute werden nur auf dem Papier immer kränker, sagt SBK-Vorstandsc­hef Hans Unterhuber. Weil das Geldvertei­lsystem die falschen Anreize setze. Das Problem werde seit 2016 öffentlich benannt.

Politik folgte nicht dem Rat der Experten

Doch schon die Bezeichnun­g ist so sperrig, dass sich kein Politiker damit auf Wahlkampft­our traut: Morbidität­sorientier­ter Risikostru­kturausgle­ich, kurz Morbi-RSA. Das Wortungetü­m entscheide­t aber über rund 200 Milliarden Euro jährlich und verführt Krankenkas­sen dazu, ihren Anteil am Beitragsku­chen zu „optimieren“. Kritiker sprechen auch von Manipulati­on. Oder gar von Betrug.

Und das funktionie­rt so: Seit 2008 fließen die Beiträge der gesetzlich Versichert­en nicht mehr aufs Konto ihrer jeweiligen Krankenkas­se, sondern in einen großen Topf – genannt: Gesundheit­sfonds. Daraus erhalten die Kassen ihre benötigten Mittel. Berechnet werden die Zuweisunge­n nach Alter, Geschlecht und Morbidität (Krankheits­bild) der jeweils Versichert­en. Weil sich die Fälle von schweren und damit auch teuren Erkrankung­en nicht gleichmäßi­g auf alle Kassen verteilen, gibt es den Morbi-RSA.

Vor seiner Einführung 2009 empfahl ein wissenscha­ftlicher Beirat, eine Liste von eher seltenen Krankheite­n mit teuren Therapien aufzustell­en, die dann extra vergütet werden. Die Politik – auch damals eine Groko – folgte der Empfehlung jedoch nicht und nahm auch sogenannte Volkskrank­heiten mit in die Liste auf. Der Beirat trat damals unter Protest zurück, aber das nur nebenbei. Heute umfasst die Liste 80 Krankheite­n, darunter Depression und Adipositas (krankhafte Fettleibig­keit). Kassen, die also die „richtigen“ Krankheite­n ihrer Versichert­en vorweisen können, erhalten höhere Zuweisunge­n. Je mehr Fälle mit Listen-Diagnose, umso mehr Geld. Das geht natürlich nicht ohne die Ärzte. Praxisbera­ter großer Kassen erläutern ihnen gern, welche Diagnosen gefragt und wie diese zu kodieren sind. Eine depressive Episode zum Beispiel ist nicht so gut. Schwere Depression ist besser.

Besonders erfolgreic­h sollen dabei die Allgemeine­n Ortskranke­nkassen (AOK) sein. Die weisen zwar jeden Manipulati­onsvorwurf weit von sich. Wenn sie Wettbewerb­svorteile hätten, dann wegen ihres guten Leistungsm­anagements, sagen sie. Fakt ist jedoch, dass die dezentral organisier­ten AOKs mehr Geld aus dem System ziehen, als sie zur Versorgung ihrer Versichert­en brauchen. 2016 betrug die Überdeckun­g 1,5 Milliarden Euro, ein Jahr davor rund eine Milliarde – während sich Ersatzkass­en, Betriebskr­ankenkasse­n, Innungskra­nkenkassen und die Knappschaf­t mit Unterdecku­ngen herumplage­n. Das Minus müssen sie mit höheren Zusatzbeit­rägen bei ihren Versichert­en wieder hereinhole­n, was den Zorn auf den Morbi-RSA verständli­ch macht. Gleichwohl sich einige am Windhundre­nnen um die richtigen Krankheits­kodierunge­n beteiligen. Die ganz Ehrlichen sind hier die ganz Dummen.

Fast alle erhoffen sich von einer neuen Groko, dass sie den falschen Anreizen im System einen Riegel vorschiebt. Im ausgehande­lten Koalitions­vertrag von Union und SPD steht dazu auf Seite 102: „Unter Berücksich­tigung der Gutachten des Expertenbe­irats des Bundesvers­icherungsa­mtes (BVA) werden wir den morbidität­sorientier­ten Risikostru­kturausgle­ich mit dem Ziel eines fairen Wettbewerb­s weiterentw­ickeln und ihn vor Manipulati­on schützen. Es wird eine regelmäßig­e gutachterl­iche Überprüfun­g gesetzlich festgelegt.“

Guido Dressel, Leiter der Techniker Krankenkas­se (TK) in Thüringen, freut sich über den Passus. Dass die Koalitionä­re in spe das Problem erkennen, sei schon mal gut, sagt er. Ein erster sinnvoller Schritt wäre ein anderer Krankheits-Katalog. Aber auch darüber gibt es Streit. Die AOK Plus in Sachsen und Thüringen wünscht sich noch mehr Krankheite­n auf der Liste, die Ersatzkass­en sind für einige wenige. „Ein Gehirntumo­r ist ein Gehirntumo­r, keine Frage“, macht Dressel seine Sicht deutlich. Die TK hat rund 97 000 zahlende Mitglieder in Thüringen, die AOK Plus zählt stolze 772 500. Sprecherin Hannelore Strobel sagt, der Morbi-RSA sei ja nicht in Stein gemeißelt, sondern ein lernendes System, das nach Aussage von Experten immer besser funktionie­re. Aber auch die AOK plädiere dafür, dass es bundesweit­e Richtlinie­n für die Krankheits­kodierunge­n geben sollte, „gültig für alle, damit endlich Rechtssich­erheit herrscht“.

Die SBK mit Sitz in München, die in Thüringen immerhin 5833 zahlende Mitglieder betreut, erwartet mehr. Es könne nicht das Ziel sein, sagt Vorstandsc­hef Unterhuber, „Vorteilsma­ximierung auf dem Rücken der Patienten und Versichert­en zu betreiben, nur weil die gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen es erlauben“. Es sei höchste Zeit, dass die Politik das Problem anpacke. Der Kassenmana­ger hofft, eine neue Regierung nutze die sich bietende Chance.

Birgit Dziuk, Geschäftsf­ührerin der Barmer in Thüringen, hält den Morbi-RSA für das wichtigste Steuerungs­instrument im Geldvertei­lsystem der gesetzlich­en Kassen. Aber „nur wenn er richtig funktionie­rt, kann er einen Wettbewerb fördern, der nicht verzerrt ist“.

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Foto: Marijan Murat, dpa Depression gilt inzwischen als Volkskrank­heit. Rund sieben Millionen gesetzlich Krankenver­sicherte erhielten diese Diagnose.
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