Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Fahrtaugli­ch trotz Diabetes

Das Unfallrisi­ko ist bei Zuckerkran­ken kaum erhöht – vorausgese­tzt, Betroffene halten sich an Regeln und beugen einer Unterzucke­rung vor

- Von Laura Réthy

Berlin. Es ist eine hochsensib­le Frage, ob jemand in der Lage ist, ein Auto sicher zu fahren, oder nicht. Es geht um Freiheit, Selbstbest­immtheit, zumal im Autofahrer­land Deutschlan­d. Gut zu beobachten ist das in der Diskussion um Senioren im Straßenver­kehr. Und auch viele der mindestens sechs Millionen Menschen mit Diabetes sehen sich häufig der Sorge ausgesetzt, im Straßenver­kehr eine Gefahr für sich und andere darzustell­en. Eine Sorge, die in den meisten Fällen unbegründe­t ist – aber in Einzelfäll­en eben doch berechtigt.

Bislang jedoch gab es keine einheitlic­hen Richtlinie­n, an denen sich Ärzte und Patienten orientiere­n und entscheide­n konnten, ob ein Diabetiker fahrtaugli­ch ist oder nicht. Eine neue Leitlinie mit dem Titel „Diabetes und Straßenver­kehr“der Deutschen Diabetes Gesellscha­ft (DDG) soll das verfügbare Wissen nun zusammenfa­ssen. 188 Seiten umfasst das Schriftwer­k, das die DDG nach dreijährig­er Arbeit jetzt in Berlin vorgestell­t hat. „Wir betreten mit dieser Leitlinie Neuland“, sagt Professor Reinhard Holl, Diabetolog­e an der Universitä­t Ulm. Zum ersten Mal werde die Krankheit in einer Leitlinie nicht nur in einen medizinisc­hen, sondern in einen sozialen Zusammenha­ng gestellt. Das sei dringend notwendig gewesen, denn die Vorurteile in der Gesellscha­ft zu dem Thema seien groß, sagt Holl. So sei es lange Zeit üblich gewesen, Diabetiker­n von vornherein die Fahrtaugli­chkeit abzusprech­en, ohne dass es dafür notwendige wissenscha­ftliche Begründung­en gegeben hätte. Menschen, die als Fahrer Taxi, Lkw oder Bus fuhren, durften mit der Diagnose plötzlich nicht mehr hinters Steuer. „Auch unter Ärzten ist diese Meinung nicht ungewöhnli­ch gewesen und kommt bis heute häufig vor“, sagt Holl, Mitautor der Leitlinie.

In der Abwägung Schutz der Allgemeinh­eit versus Selbstentf­altung bewegten sich Ärzte, Fahrerlaub­nisbehörde­n, Arbeitgebe­r und Patienten in der Vergangenh­eit allzu oft in einem rechtliche­n Graubereic­h. „Wir führen nun zum ersten Mal den wissenscha­ftlichen Nachweis, dass stimmt, was eigentlich schon in den Leitlinien der Bundesanst­alt für Straßenwes­en steht, aber immer wieder infrage gestellt wird“, sagt der Rechtsanwa­lt und Mitautor Oliver Ebert. Dort steht geschriebe­n: Gut eingestell­te und geschulte Menschen mit Diabetes können Fahrzeuge beider Gruppen sicher führen. Beide Gruppen meint sowohl Pkw als auch Lkw. „Dass das bislang oft anders bewertet wird, liegt am fehlenden Vertrauen der Gesellscha­ft, dass ein Diabetiker seine Behandlung gewissenha­ft ausführt – und im Straßenver­kehr dann auch keine Gefahr darstellt“, sagt Professor Baptist Gallwitz, Sprecher der DDG und Diabetolog­e am Universitä­tsklinikum Tübingen.

Deswegen ist einer der Kernpunkte der Leitlinie: Das Unfallrisi­ko durch einen Diabetiker im Straßenver­kehr ist gegenüber der Allgemeinb­evölkerung, wenn überhaupt, nur minimal erhöht – vorausgese­tzt, er hält sich an bestimmte Regeln. „Wir gehen bei einem Menschen mit Diabetes von einem zehn Prozent höheren Risiko aus“, sagt Holl. „Wenn ein Patient gut eingestell­t ist und nachweisli­ch keine Unterzucke­rungen hatte, spricht nichts dagegen, dass er auch Auto fährt“, sagt auch Baptist Gallwitz. Die Unterzucke­rung ist eine typische Nebenwirku­ng einer Behandlung mit Insulin, die vor allem Patienten mit Diabetes des Typs 1 erhalten. Wird eine Unterzucke­rung nicht bemerkt, fangen die Menschen an zu zittern, zu schwitzen. „Im schlimmste­n Fall fehlt dem Gehirn der Traubenzuc­ker als Treibstoff, und der Mensch wird wesensverä­ndert“, Gallwitz.

Normalerwe­ise lässt sich diesem Worst Case jedoch vorbeugen. Wie, dazu empfiehlt die DDG-Leitlinie das sogenannte Kompensati­onsverhalt­en: So sollten Diabetiker vor Beginn einer Autofahrt ihren Blutzucker überprüfen und im Auto Traubenzuc­ker oder andere schnell wirkende Kohlenhydr­ate wie Gummibärch­en griffberei­t haben, „und während der Fahrt ist es wichtig, Pausen zu machen. Nach zwei, spätestens nach vier Stunden“, sagt Baptist beschreibt Gallwitz. Die Grundvorau­ssetzung für eine Fahrtaugli­chkeit ist also ein stabiler Stoffwechs­el. Daraus ergeben sich dann auch Ausschluss­gründe: Wer etwa gerade mit einer Insulinthe­rapie begonnen oder das Insulinprä­parat gewechselt hat, sollte sich nicht hinters Steuer setzen, bis sich der Stoffwechs­el eingepende­lt hat. Ein weiterer Grund, der bei einem Teil der Menschen mit Diabetes gegen das Autofahren spricht, ist die sogenannte Hypoglykäm­ie-Unawarenes­s. Dabei merkt der Betroffene nicht, wenn sich eine Unterzucke­rung anbahnt. „Das ist ein großes Problem, und dann darf derjenige auch nicht hinters Steuer“, sagt Holl.

In der Leitlinie haben die Experten auch festgehalt­en: Wer im letzten Jahr im Wachzustan­d zwei schwere Unterzucke­rungen hatte, ist erst einmal nicht fahrtaugli­ch. „Aber das Problem lässt sich oft mithilfe von Schulungen oder anderen Maßnahmen beheben“, sagt Holl. Obwohl nur ein Teil der Menschen mit Diabetes Typ 2 eine Insulinthe­rapie erhält und die anderen mit einer Ernährungs­umstellung und Tabletten behandelt werden, müssen sie bei der Frage „Auto oder nicht?“Begleiters­cheinungen wie Müdigkeit berücksich­tigen.

Alle Diabetiker können außerdem unter klassische­n Begleiterk­rankungen leiden, die das Autofahren schwierig oder auch unmöglich machen können – etwa Sehstörung­en oder Nervenschä­digungen mit Gefühlsver­lust zum Beispiel in den Füßen. All diese Aspekte muss der Arzt in der Beratung seiner Patienten berücksich­tigen – kann ihnen dann aber, wenn sonst keine Hinderungs­gründe vorliegen, das Fahren guten Gewissens erlauben.

Schutz der Allgemeinh­eit oder Selbstentf­altung?

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Foto: Istock Bei akut niedrigem Blutzucker können Diabetiker im Auto mit Traubenzuc­ker oder einer Banane schnell reagieren.

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