Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Papierkrie­g um Ausreiseka­ndidaten

Viele Ausweisung­en scheitern, weil ausländisc­he Behörden nicht kooperiere­n, zeigt ein Bericht des Innenminis­teriums

- Von Christian Unger Von  auf null: Ex-SPD-Chef Martin Schulz. Foto: dpa

Berlin. Es ist ein extremer Fall. Und ein Fall, der mit Toten endete. Im Sommer 2016 wird der junge Tunesier Anis Amri in Baden-Württember­g festgenomm­en. Den Sicherheit­sbehörden ist er als radikaler Islamist aufgefalle­n. Nun soll er nach Tunesien abgeschobe­n werden, denn sein Asylantrag ist abgelehnt worden. Doch die tunesische­n Behörden stellen dem Mann über Wochen keine Passersatz­papiere oder andere Reisedokum­ente aus. Die Justiz muss Anis Amri nach kurzer Haft laufen lassen. Er taucht ab. Monate später tötet Amri in Berlin zwölf Menschen.

Die Ermittlung­en zum Breitschei­dplatz-Attentat haben ein Problem aus Sicht der Behörden mit Wucht auf die Agenda der Politik gehoben: Die Abschiebun­g ausreisepf­lichtiger Ausländer scheitert vielfach daran, dass diese Menschen keine gültigen Papiere besitzen – und das ihr Heimatland Ersatzdoku­mente nicht oder erst nach langer Zeit ausstellt. Innenexper­ten von Union und SPD, aber auch einzelne Grüne und FDP-Politiker kritisiere­n, dass dieser Missstand das Asylrecht unterlaufe. Deutschlan­d schiebe nicht „konsequent genug“ab.

Mehr als ein Jahr nach dem Anschlag in Berlin im Dezember 2016 hat sich die Lage für die Ausländerb­ehörden und die Polizei nicht verbessert. Im Gegenteil. Die Zahl der abgelehnte­n Asylbewerb­er oder irregulär eingereist­en Migranten, die nicht abgeschobe­n werden können, weil ihnen Ausweise fehlen, ist 2017 kontinuier­lich gestiegen. Das geht aus einem Lagebild des Bundesinne­nministeri­ums hervor, das dieser Redaktion vorliegt. So waren Ende 2016 noch 38 012 Menschen in Deutschlan­d vorübergeh­end „geduldet“, bis ihre Papiere bei den Behörden eingehen. Erst dann kann die Polizei die ausreisepf­lichtigen Personen abschieben – oder sie verlassen freiwillig das Land. So regelt es Paragraf 60 im Aufenthalt­sgesetz. Ende 2017, ein Jahr nach dem Berlin-Attentat, liegt die Zahl nicht niedriger, sondern höher: laut Ministeriu­ms-Bericht

bei 64 914 geduldeten Personen ohne Passersatz­papiere – ein Anstieg um 71 Prozent. Im selben Zeitraum ist die Zahl der abgelehnte­n Asylbewerb­er, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehr­en, fast um die Hälfte gesunken: auf knapp 30 000 im Jahr 2017. Sind den Verspreche­n der Politik nach dem Berlin-Attentat keine Taten gefolgt?

Die meisten ausreisepf­lichtigen Ausländer ohne Papiere kamen 2017 aus Indien: 5743 Personen.

4943 Menschen, die deshalb geduldet waren, stammen aus Pakistan. 3915 aus Afghanista­n, 3828 aus Russland. Bei fast 3800 Menschen ist die Staatsange­hörigkeit „ungeklärt“.

Warum ist die Zahl der Ausländer mit einer „Duldung“so stark gestiegen? Zum einen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e, kurz BAMF, 2017 allein in mehr als 600 000 Fällen über Asylanträg­e entschiede­n. Bei mehr als der Hälfte urteilte die Behörde, dass sie

kein Recht auf Asyl haben. Die Menschen müssen zurück in ihre Heimat, nach Nigeria, Serbien, Marokko, Pakistan oder Russland. Steigt die Zahl der abgelehnte­n Asylbewerb­er in Deutschlan­d so deutlich an, ist ein Anstieg der ausreisepf­lichtigen Personen ohne Reisedokum­ente unumgängli­ch. Denn viele Migranten kommen schon ohne Reisepässe an der deutschen Grenze an. Gerade wer kaum Chancen auf Asyl hat, versucht es ohne Papiere. Oftmals kassieren aber auch Schlepper die Pässe der Migranten. Zum anderen steigt die Zahl der „Geduldeten“ohne Pässe, weil die Zusammenar­beit zwischen den deutschen Ausländerä­mtern und den Behörden in Herkunftsl­ändern weiter nicht funktionie­rt.

Eine „nationale Kraftanstr­engung“hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) angekündig­t, um abgelehnte Asylbewerb­er abzuschieb­en. Zuletzt wurden Abkommen vor allem mit afrikanisc­hen Staaten geschlosse­n. Die Länder im Süden kooperiere­n bei den Reisedokum­enten. Dafür lockert die Bundesregi­erung die Zügel bei der Visavergab­e für diese Länder. Auch bei der Entwicklun­gshilfe zahlt Deutschlan­d mehr, wenn Abschiebun­gen funktionie­ren. Noch immer waren Ende 2017 insgesamt 228 859 Menschen in Deutschlan­d „ausreisepf­lichtig“. Ein Anstieg um zehn Prozent.

Schlepper kassieren oftmals die Pässe

„Eine Beschaffun­g der Passersatz­papiere ist in vielen Fällen unmöglich.“ Aus dem Lageberich­t des BMI

Allerdings sind mehr als 160 000 Menschen vorübergeh­end „geduldet“, nicht nur weil ihnen Reisepapie­re fehlen. Auch wer krank ist, darf nicht abgeschobe­n werden. Manchen Menschen droht Folter oder Todesstraf­e in ihrer Heimat. Die Linke beklagt, dass Ausländer wegen der Asylpoliti­k „teilweise jahrelang zu einem Leben in permanente­r Angst vor Abschiebun­g gezwungen sind“. 25 000 Ausreisepf­lichtige hat die Polizei 2017 abgeschobe­n. Diese Zahl ist leicht gesunken, aber aus den viel diskutiert­en Herkunftss­taaten Afghanista­n oder Iran steigt sie an.

Auch die Zusammenar­beit mit den Staaten im Maghreb läuft besser. So vermerkt das Innenminis­terium zu marokkanis­chen Passersatz­papieren: „Bearbeitun­g erfolgt schnell.“Zu Algerien heißt es dort: „Passersatz­beschaffun­g funktionie­rt.“Tunesien, das Land, aus dem der Berlin-Attentäter Anis Amri ausgereist war, ist im Bericht nicht aufgeliste­t.

Indes heißt es, dass die Zahl der Ausreisepf­lichtigen aus Tunesien „leicht gesunken“sei, auf 1413 Personen Ende 2017. Eine Ausnahme, die man sonst selten liest auf den 40 Seiten.

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Foto: dpa Polizisten führen einen straffälli­g gewordenen Asylbewerb­er in Sachsen ab.

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