Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Für den Notfall vorsorgen

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Es gibt Tage, da läuft alles. Musik und alle singen mit. Zwei Stunden Mathe, und die Klasse ruft „Prima!“. Keine Zwischenfä­lle, keine ungeplante­n Unterbrech­ungen. Das Stundenkon­zept hat funktionie­rt, am Ende haben alle den Unterschie­d zwischen Körper und Fläche verstanden, die Groß- und Kleinschre­ibung, oder was sonst im Plan stand. Das sind Tage, die eine Zufriedenh­eit stiften. Aber solche Tage sind selten. Eigentlich, sagt Thomas R. (*), musst du jede Minute mit allem rechnen. Du stehst an der Tafel mit dem Rücken zur Klasse und dann passiert es. Ein Heft wird zerrissen, ein Stuhl fliegt durch die Klasse.

Thomas R. ist Lehrer an einer Thüringer Grundschul­e. Etwa 300 Kinder und praktisch jede Klasse ist eine Inklusions­klasse. In der Kinder ohne Behinderun­g oder Auffälligk­eiten gemeinsam mit Kindern unterricht­et werden, die einen besonderen Förderbeda­rf haben. In seiner zweiten Klasse sind das von 26 Schülern drei. Eines von ihnen ist ein autistisch­es Kind, es hat eine Integratio­nshilfe. Der Schulbegle­iter ist faktisch in jeder Stunde präsent, das funktionie­rt gut, sagt Thomas R..

Schwierig ist es mit den beiden anderen. ESE-Kinder, in der Fachsprach­e, das steht für „Förderschw­erpunkt emotional-soziale Entwicklun­g“. Kinder, die sich nur schwer konzentrie­ren können, die ihre Gefühle und Impulse nicht im Griff haben.

Kinder, die innerhalb von Sekunden die Unterricht­sstunde auf den Kopf stellen können. Die Auslöser sind kaum vorhersehb­ar. Er versucht dann, das Kind zu beruhigen, manchmal geht das nur vor der Tür, manchmal dauert es und manchmal bleibt nichts anderes übrig, als das Kind für den Rest der Stunde ins Sekretaria­t zu setzen.

Das Konzept für die Unterricht­sstunde, sagt er, kannst du natürlich vergessen. 45 Minuten sind schnell vorbei.

Es gibt Situatione­n, da zweifelst du an dir selber. Weil du dich hilflos fühlst, weil du dir nicht sicher bist, ob du adäquat reagierst. Weil dein Anspruch an einen guten Unterricht hinter der Realität zurückblei­bt. Niemand hat dich auf solche Situatione­n vorbereite­t, du bist ja kein Förderschu­lpädagoge, du bist Grundschul­lehrer.

Manchmal hast du das Gefühl, dass alle in der Klasse draufzahle­n. Die Leistungss­tarken, die mehr gefördert werden müssten. Das Mittelfeld, dass motiviert ist und lernen will. Und die ESE-Kinder, die auch unter ihren Möglichkei­ten bleiben, ohne konstante Förderung.

Eigentlich, sagt Thomas R., gibt es an der Schule kaum einen Lehrer, der diese Erfahrung nicht kennt. Er hat schon Kollegen im Lehrerzimm­er in Tränen ausbrechen sehen. Es gibt Kinder, die machen auch vor dem Lehrer nicht halt. Da gibt es Beschimpfu­ngen bis hin zu körperlich­en Angriffen.

Ein Sozialarbe­iter in der Schule wäre wichtig

Und, um das klar zu stellen: Er gibt doch nicht den Kindern die Schuld. Niemand wird mit emotionale­n und sozialen Defiziten geboren. Ein Satz, den er mehrfach wiederholt, er ist ihm wichtig. Da stecken familiäre Probleme dahinter. Da muss man ansetzen, sagt er. Eine ausweglose Situation? Das sagt Thomas R. nicht und er sagt auch nicht: Inklusion kann nicht gelingen. Doch, das kann sie. Es gibt an seiner Schule Beispiele. Wir haben hier, erklärt er, Kinder mit einer Gehbehinde­rung, Kinder die schlecht hören. Die Lehrer klemmen sich alle dahinter.

Und ihre Mitschüler nehmen sie mit in einer Weise, schwärmt er, dass einem das Herz aufgeht. Sogar richtige Erfolgsges­chichten gibt es. Das autistisch­e Kind zum Beispiel, dass sich so gut entwickelt hat, dass es inzwischen keinen Schulbegle­iter mehr braucht. Aber? Aber in der Summe, sagt er, bleibt Inklusion ein gutes Anliegen auf dem Papier. So lange die Personalsi­tuation an den Schulen ist, wie sie ist. Der Schule wurden zwei GU-Lehrer und eine sonderpäda­gogische Fachkraft zugewiesen. GU steht für „gemeinsame­r Unterricht“, die Kollegen sind Förderschu­llehrer, die mit ihrer Kompetenz die Lehrer unterstütz­en sollen.

Das tun sie auch. Sie schauen sich die Klassen an, geben den Kollegen Ratschläge, unterricht­en Kinder mit Förderbeda­rf manchmal einzeln, manchmal in kleinen Gruppen. Aber es reicht eben nicht. In der Summe kommen Kinder mit einem Bedarf auf drei bis vier Stunden spezielle Förderung. Das ist viel zu wenig. Meilenweit entfernt von einer Doppelbese­tzung, wie es nach seinen Erfahrunge­n sinnvoll wäre. Er wäre schon glücklich, wenn die Schule einen Sozialarbe­iter hätte. Einer der stets verfügbar ist, der sich um einen ESE-Schüler kümmern kann, wenn mal wieder ein Stuhl geflogen ist. Zum Beispiel.

Zum Jahresanfa­ng sind zwei Lehrer in Rente gegangen, die Stellen sind bis heute unbesetzt. Sie mussten die Stundentaf­el kürzen, was der Hort zusätzlich auffangen muss.

Es gab schon Tage, da haben die GU-Lehrer regulären Unterricht übernommen, damit wenigstens die Grundlagen abgesicher­t sind.

Das alles, sagt Thomas R., tun wir gern, dafür sind wir Lehrer geworden. Mit dem täglichen Anspruch, jedes Kind zu erreichen. Aber wir scheitern täglich an den Realitäten. (*) Der richtige Name ist der Redaktion bekannt Gera. Jeden von uns kann es treffen: Durch einen Unfall oder eine plötzlich auftretend­e Krankheit ist man nicht mehr in der Lage, selbst über sein Leben zu bestimmen. Wer regelt dann die Vermögensa­ngelegenhe­iten, wenn man handlungsu­nfähig im Krankenhau­s liegt? Wer verhandelt mit Banken, Institutio­nen und Behörden? Wie soll die ärztliche Behandlung aussehen? Wer willigt in Operatione­n ein? Es gibt verschiede­ne Varianten, für diesen Ernstfall vorzusorge­n. Ihre Fragen rund um das Thema „Vorsorgevo­llmacht und Patientenv­erfügung“können Sie heute von 15 bis 17 Uhr an Notare der Notarkamme­r Thüringen – Dr. Ronald Hunke, Eckart Maaß, Uwe Münsterber­g, Henning Leibe – richten.

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