Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Die Frau der feinen Nadelstiche
Heute Damenschneidermeisterin Helga Groß aus Gera
Gera. Ihre Nähstube ist winzig, steckt aber voller Leben und Erinnerungen. Deckblätter einer Modezeitschrift sind auf die Wand neben dem großen Spiegel geheftet. Auf Kleiderbügeln hängen ein leichtes Sommerkleid, eine fast fertige Chanel-Jacke und ein schicker Wollmantel. Fingerhüte aus Porzellan vom Amazonas über den Nordcap bis zum Polarkreis liegen auf einem Regal. Die aus Metall benutzt Helga Groß noch. Für eine Kundin näht sie gerade einen schwarzen Rock mit Faltenteil. „Damit die Trägerin besser ins und aus dem Auto steigen kann.“
Neue Garderobe wird heute noch selbst genäht
Helga Groß ist mit ihren 73 Jahren ein Wirbelwind und lebt für ihren Beruf. „Die Schneidergene habe ich wohl von meiner Großmutter geerbt“, behauptet die zierliche und elegant angezogene Frau. „Mit acht Jahren saß ich schon an der Nähmaschine und habe aus allen möglichen Stoffresten Kleider für meine Puppen genäht. Schneiderin wollte ich werden und nichts anderes.“
Als Klassenbeste in der Geraer Mittelschule soll sie Abitur machen. Sie entscheidet sich dagegen. Ihr Berufswunsch steht fest, felsenfest: Damenmaßschneiderin. „Die Mode von Frauen ist so variabel und fantasiereich. Uns schön einzukleiden mit den unterschiedlichsten Modellen und Stoffen, finde ich heute noch so faszinierend“, begründet Helga Groß ihre Berufswahl. „Wollstoffe und Stoffe mit geringem Chemiefaseranteil sind leichter zu verarbeiten als Seide.“Aber ein geht Nicht, gibt es nicht.
Die Lehre schafft die wissbegierige junge Frau in zweieinhalb statt in drei Jahren. „Sehr gut“steht auf dem Facharbeiterbrief. Eine Hemdbluse und ein Mustertuch mit verschiedenen Arbeitstechniken wie Knopflöcher, Rockbund und eingesetzte Falten muss sie im praktischen Teil vorlegen.
Mit 20 Jahren fährt sie ins russische Sotschi. Für die Reise näht sie sich eine weiße Hose. „Die hätte ich dort für einen goldenen Ring mit Elfenbeineinsatz verkaufen können.“Das macht sie stolz und spornt an. Gerade mal 24 Jahre alt, hält sie ihren Meisterbrief in der Hand. Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Ihr Beruf lässt Helga Groß selbst im Rentenalter nicht los und sie bildet sich immer noch weiter.
Von ihrem Wissen sollen Junge profitieren. Als gefragte Dozentin fährt sie, die auch Schnittzeichnerin ist, immer noch quer durch Deutschland und zu Kongressen ins Ausland. Angezogen natürlich mit selbst Geschneidertem, ob Kleider, Kostüme, Hosen und Mäntel. Nur Pullover, Tücher, Schuhe und Taschen kauft die temperamentvolle Meisterin.
Zur Modenschau während des Fünf-Ländertreffens im vergangenen Jahr in Innsbruck lief ein Model mit einem Modell von Helga Groß über den Laufsteg. Nächstes Jahr findet die Zusammenkunft in Amsterdam statt.
Die Meisterin bedauert, dass dieses Handwerk „bei uns nicht mehr so attraktiv ist“. Der Nachwuchs fehlt, weil es wenig Ausbildungsbetriebe gibt. „Damenmaßscheiderin ist ein so vielfältiger Beruf. Die Arbeit beginnt mit Beraten. Das macht den größten Teil aus. Zu welchem Anlass will die Kundin das Teil tragen, geschäftlich, auf einer Feier oder im Alltag. Anschließend wird mit Hilfe von Musterbüchern der Stoff, die Farbe, das Zubehör wie Knöpfe oder Reißverschluss ausgesucht. Nun kann mit dem Maßnehmen begonnen werden, dem ein perfekter Schnitt folgen sollte“. Schnittzeichnen sei wichtig, damit nach der Anprobe wenig Nacharbeit anfällt.
Geduld, mathematische Fähigkeiten, logisches Denken und natürlich Geschmack braucht eine Damenmaßschneiderin. Letzterer sei manchen Frauen abhanden gekommen. „Als die einstige Gattin des ExBundespräsidenten Christian Wulff mit Jeans, aufgeschlissen am Knie, auf der Bühne stand, tat mir das weh“, sagt Helga Groß. Spanierinnen, Russinnen und Italienerinnen ziehen sich schön und fraulich an, legen Wert auf ihre Kleidung „Nur deutsche Frauen tragen ständig Hosen, sagen auch viele Designer.“Ja, die Mode ist zu leger geworden, findet die 73-Jährige und die textile Verarbeitung oft schlecht. „Ich erkenne sofort, ob ein Stück per Hand gefertigt oder von der Stange ist. Nicht richtig eingenähte Ärmel oder schlecht eingefasste Nähte sind untrügliche Zeichen.“
Beim Kauf eines Autos wie einem Mercedes legen die Frauen doch auch Wert auf Aussehen und Ausstattung.
Gewiss ist Maßanfertigung teurer. Aber eine zeitlose Grundgarderobe in guter Qualität, bestehend aus Hose, Blazer und Rock, ist nicht nur kombinierbar. Sie hält viele Jahre lang, weiß die Meisterin.