Ostthüringer Zeitung (Rudolstadt)
Tim Krohns Mammutprojekt „Chronik der Regungen“
„Herr Brechbühl sucht eine Katze“ist Auftakt eines ungewöhnlichen Romanexperiments: Leser dürfen sich eine Geschichte wünschen
der dritte Band dann im Frühjahr 2018.
Von dem Deutsch-Schweizer Krohn sind zuletzt die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“und „Nachts in Vals“erschienen. Trotzdem dürfte auch für ihn dieses Langzeitprojekt eine echte Herausforderung sein. Denn pro Woche muss er drei bis vier Geschichten liefern. Der Autor selbst spricht von „Material für zehn Jahre Arbeit“. Wichtig sind für ihn vor allem die von den Lesern gewählten Zusatzwörter: „Habe ich nur einen Begriff wie „Heiterkeit“, ist das Feld des Denk- und Schreibbaren endlos. Kommen aber die Wörter „Klavier“, „Explosion“, „Entschweben“hinzu, formt sich unmittelbar eine Welt, in der ich mich leicht zurechtfinde.“
Damit das Ganze nicht ein zusammenhangloser, wirrer Geschichtensalat wird, hat Krohn ihm einen Rahmen verpasst: Alle Episoden spielen in einem Zürcher Wohnhaus, einem sogenannten Genossenschaftsbau, kurz nach der Jahrtausendwende. Die Paare, Familien und Singles in diesem Haus sind ein wiederkehrendes Personal, deren Geschichten eng miteinander verbunden und zu einem gigantischen Fortsetzungsroman weitergeschrieben werden.
Mit Blick auf den ersten Band geht das Konzept gut auf. Krohn hat ein variantenreiches Personal geschaffen, bei dem es ordentlich quirlt und qualmt, ohne dass es allzu melodramatisch wird. Die Hauptfiguren sind der ehemalige Straßenbahnfahrer Hubert Brechbühl, die Schauspielerin Selina Mey, der zerstreute und hochbegabte Technikstudent Moritz Schneuwly, eine alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter, ein liebenswertes altes Ehepaar und zwei sexverrückte sympathische Studenten.
Die Geschichten überzeugen gerade durch ihre Alltagstauglichkeit ohne in Telenovela-Kitsch zu verfallen. Dabei erweist sich Krohns schriftstellerisches Können in der genauen Charakterzeichnung, in seinem humorvollen Blick auf die Untiefen des Alltags und seinem Verständnis für charakterliche Macken. Dem Roman merkt man übrigens die eigenwillige Konzeption kaum an. Zwar ist jedes der 65 Kapitel mit einer Gefühlsregung überschrieben, doch beim Lesen spielt das überraschenderweise kaum eine Rolle. Es erscheint als eine Geschichte aus einem Guss.