Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Studentin wird Opfer ihrer Zivilcourage
Anlässlich des Tages des Kriminalitätsopfers berichtet eine Jenaerin, wie ein Angreifer ihr Auge schwer verletzt hat und ihr der Weiße Ring hilft
Jena. Den 22. Oktober 2016 behält Caro Müller* in bleibender Erinnerung. In trauriger Erinnerung. Sie hat gehandelt, wo andere weggeschaut hätten. Sie hat Zivilcourage gezeigt – und eine schwere Augenverletzung davongetragen.
Die Jenaer Medizinstudentin fuhr an jenem Samstag in den Morgenstunden von einer Party heim. Vier Kumpels begleiten sie bei der Fahrt in der Straßenbahn. Am Paradiesbahnhof in Jena steigt die Gruppe aus. Dort lungern einige junge Männer und pöbeln. „Ihr Hipster, verpisst Euch aus Jena“, rufen die Angetrunkenen. Oder: „Ihr Spasten“Einer der Angetrunkenen verfolgt die Gruppe, setzt die Beleidigungen fort. „Ein Begleiter hat sich schließlich herumgedreht und gesagt, dass er das lassen soll.“
Daraufhin legt der Angreifer seine Jacke und den Rucksack ab und will den Studenten schlagen. „Ich bin dazwischen gegangen, um die Situation zu beruhigen“, berichtet die 22-Jährige. „Der Angreifer ist richtig aggressiv geworden und hat mich am Kragen gepackt.“Sie habe versucht, ihn mit einer Ohrfeige zurückzudrängen. „Er hat mir daraufhin mit der Faust aufs Auge geschlagen und ist weggerannt.“ Ihre Freunde verständigen die Polizei, die nach zwei Minuten eintrifft, den Fall aufnimmt, aber den Täter nicht stellt. Der herbeigeeilte Rettungsdienst weist die Frau in die Notaufnahme ein, wo die Ärzte eine schlimme Diagnose treffen.
Die Netzhaut im linken Auge hat sich abgelöst. Bei einer Operation müssen die Mediziner das Auge aushöhlen, um die Verletzung zu versorgen. Zweieinhalb Wochen liegt sie in der Klinik. Weitere vier Wochen muss sie zu Hause Bettruhe halten. Trotz zweier weiterer Laserbehandlungen bleibt das Gesichtsfeld bis heute eingeschränkt, sagt die junge Frau mit ernster Miene.
Neben ihr sitzt Marie-Christin Sommer. Die Rechtsreferendarin am Landgericht Erfurt engagiert sich in ihrer Freizeit beim Weißen Ring in Jena, einer Hilfsorganisation für die Opfer von Kriminalstraftaten. „Ich habe Glück gehabt und bin wohlbehütet aufgewachsen“, sagt die Jenaerin, die an der FriedrichSchiller-Universität Jura studiert hat. „Alle versuchen, den Täter zu schnappen, aber keiner kümmert sich um die Opfer.“
Deshalb habe sie sich für die ehrenamtliche Aufgabe entschieden. Nach dem Besuch von Seminaren und regelmäßigen Weiterbildungen betreut jeder Helfer pro Jahr zwischen fünf und acht Fälle. Am häufigsten bitten Opfer von häuslicher Gewalt oder Sexualdelikten, aber auch von Körperverletzungen um Hilfe.
Der Umfang der Aufgaben unterscheidet sich deutlich. Manchmal bleibt es bei einem Gespräch, in anderen Fällen stehen die Helfer den Opfern über Jahre zur Seite: Das Spektrum reicht von Beratungsgesprächen über die Hilfe bei Behördengängen oder der Begleitung zum Gericht. „Mit wenig Aufwand können wir viel Hilfe leisten“, sagt Marie-Christin Sommer.
Caro Müller nickt. „Der Weiße Ring war mein Fels in der Brandung angesichts des Papierkrieges.“Ihr Bruder habe sie auf die Idee gebracht, bei der Organisation um Hilfe zu bitten. Unter anderem vermittelte der Weiße Ring die Beratung durch einen Anwalt. Enttäuscht war die junge Frau von der Polizei. Nach dem Vorfall habe sich niemand bei ihr im Krankenhaus nach dem Ausmaß der Verletzungen erkundigt. Auch seien ihre Kommilitonen nicht wegen der Anfertigung eines möglichen Phantombildes gefragt worden. Ein privat initiierter Fahndungsaufruf mit 500 Euro Belohnung brachte nichts.
Bei der Polizei läuft noch das Ermittlungsverfahren in dem Fall, wie Antje Weißmann von der Landespolizeiinspektion Jena bestätigt. Ob der Täter jemals überführt wird, ist offen – die Hoffnung hat Caro Müller aber noch nicht aufgegeben. Sie hofft, dass Zeugen unter Telefon (03641) 81 11 23 Hinweise geben, die am 22. Oktober zwischen 5 und 6 Uhr den Täter am Paradiesbahnhof gesehen haben. Er ist Anfang 20, 1,70 Meter groß, hat dunkles Haar und spricht hochdeutsch. Der Mann trug damals eine dunkelgrüne Jacke und hatte einen grün-graukarierten Rucksack dabei.
Zumindest finanziell hilft das Opferentschädigungsgesetz. Caro Müller hat bereits einen entsprechenden Antrag gestellt und hofft, dass beispielsweise die notwendige neue Brille gezahlt wird. Die Medizinstudentin kam durch die Straftat mit ihrem Studium in Verzug. „Zum Glück hat sich die Universität sehr kulant gezeigt“, sagt Caro Müller, die dank eines Kraftaktes in nur vier Wochen den Stoff eines ganzen Semesters aufgeholt hat – und dafür sogar darauf verzichtete, mit ihrer Familie Weihnachten zu feiern.
Bis heute bereut sie den Einsatz trotz ihrer Verletzung keine Sekunde. Es sei richtig und wichtig gewesen, in dieser Situation Verantwortung zu übernehmen und einzugreifen. Doch wie reagiert die junge Frau, falls sie nochmals Zeuge einer Straftat wird? „Ich wäre vorsichtiger, aber würde wieder eingreifen“, antwortet die Studentin.