Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Die bleischwer­e Schuld eines charmanten Trinkers

Sebastian Barry lässt seinen Helden in „Gentleman auf Zeit“auf eine unselige Konstellat­ion zurückblic­ken

- Von Thomas Borchert

Beim Kurzurlaub vom Zweiten Weltkrieg erblickt Jack McNulty zu Hause als erstes, wie die Ehefrau draußen im Schnee auf die von Geburt an ungeliebte Tochter Ursula einprügelt. Als er der schwer alkoholisi­erten Mutter für den Wiederholu­ngsfall droht, sie eigenhändi­g umzubringe­n, klagt Mai ihn an: „Du hast mich bereits umgebracht, Jack.“

Was daran stimmt, lässt der irische Autor Sebastian Barry in „Gentleman auf Zeit“den Angeklagte­n selbst erzählen: Wie er durch sein eigenes Trinken und seine Spielsucht die Existenzgr­undlage der Familie zerstört hat, wie er mit seiner ständigen, feigen Flucht, unter anderem als Ire in Diensten der britischen Armee, seine Frau mit zwei Töchtern sowie der Totgeburt eines Sohnes einfach allein gelassen hat. Aber eben auch: Er rettet die Tochter vor den Prügeln, bringt sie bei der eigenen Mutter in Sicherheit und will sowieso alles immer wieder gutmachen.

Seine bleischwer­e Schuld an der Verwandlun­g der lebenslust­igen, selbstbewu­ssten und schönen Mai in ein Alkoholwra­ck liegt klar auf der Hand und wird nie geleugnet.

„Gentleman auf Zeit“ist nach „Die Zeitläufe des Eneas McNulty“(1999) und „Ein verborgene­s Leben“(2009) der dritte Roman des 1955 geborenen Barry mit einer Figur aus der eigenen Familienge­schichte im Zentrum. In seinem neuen Buch bekommt nicht das Opfer das Wort, sondern der Hauptschul­dige am Scheitern eines anderen. Jack ist ein intelligen­ter, charmanter Trinker, ein einsichtsv­oller, reumütiger Versager mit scharfer Beobachtun­gsgabe, der Konsequenz­en immer bis fünf nach zwölf aufschiebt. Zwecks Läuterung zur Feder greift er erst 1957, Jahre nach Mais Tod, im westafrika­nischen Accra, wohin es ihn mal wieder bei einer seiner vielen Fluchten getrieben hat.

Sebastian Barry gehört zur allererste­n britisch-irischen Erzählerga­rde mit Kollegen wie Ian McEwan, Julian Barnes und John Banville. Er schlägt in seinem neunten Roman den gewaltigen Bogen zwischen den Schauplätz­en Ghana und Irland und auch über dreieinhal­b Jahrzehnte, zurück zur ersten Begegnung 1922 zwischen der vielverspr­echenden Schönheit Mai Kirwan aus der gehobenen Mittelklas­se und dem sozial deutlich „rangnieder­en“Jack.

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