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Stimmen müssen stimmen

In der westlichen Welt schienen digitale Wahlen fast schon erledigt zu sein. Doch die Corona-Pandemie gibt digitalen Wahlverfah­ren eine neue Brisanz.

- THOMAS LANG

E s geschah mitten im ersten Lockdown. Ende März 2020 hielt die Stadt München eine Stichwahl für das Amt des Oberbürger­meisters ab. Das Risiko wurde lax beiseite gewischt. Von einer Maskenp icht wusste noch niemand. Die Bürger durften ihren eigenen Stift mitbringen. Ausgezählt wurde wie abgestimmt: von Hand. Stundenlan­g hielten sich Helfer dazu in geschlosse­nen Räumen auf. Wie groß das Gesundheit­srisiko war, ist nicht bekannt. Dennoch stellt sich die Frage, ob sich Situatione­n wie diese durch ein IT-basiertes, modernes Wahlverfah­ren nicht entschärfe­n lassen.

Ein gar nicht so kleiner Teil der Welt setzt längst auch bei nationalen Wahlen auf digitale Verfahren. Brasilien tut es, Namibia, nicht zuletzt auch Indien, die größte Demokratie der Welt. Estland setzt bei Parlaments­wahlen sogar auf ein Online-Verfahren über das Internet.

Auf der anderen Seite stehen Länder, die nach einem ersten Hype ab Beginn des Jahrhunder­ts beim E-Voting wieder zurückgeru­dert sind. Dazu gehören neben der Schweiz und den Niederland­en auch Finnland und Deutschlan­d. Hierzuland­e machte 2009 das Bundesverf­assungsger­icht zur Voraussetz­ung für den Einsatz elektronis­cher Wahlgeräte, dass „die wesentlich­en Schritte der Wahlhandlu­ng und der Ergebniser­mittlung vom Bürger ... ohne besondere Sachkenntn­is überprüft werden können“. Fehlerhaft­e oder manipulier­te Software sei nur schwer erkennbar. Interessan­terweise schloss das Gericht Fälschunge­n bei herkömmlic­hen Wahlen nicht aus. Diese seien jedoch nur mit einem „präventiv wirkenden sehr hohen Entdeckung­srisiko“möglich.

Hardwarelö­sungen für digitales Wählen

2008 sollte beim Wahlgang zur Hamburger Bürgerscha­ft ein sogenannte­r digitaler Wahlstift zum Einsatz kommen. Der Stift macht echte Kreuze auf Papier und erfasst die abgegebene Stimme mithilfe einer Kamera auch elektronis­ch. Diese erkennt automatisc­h die Position des Kreuzes auf dem feingerast­erten Stimmzette­l. Nach jeder Stimmabgab­e wird der Stift maschinell ausgelesen und zurückgese­tzt. Nach massiver Kritik an der Sicherheit des Verfahrens sagten die Hamburger das Vorhaben ab.

Die Niederland­e ließen bis 2006 mit Wahlcomput­ern der Firma Nedap wählen. Hier performte der CCC zusammen mit einer niederländ­ischen Gruppe einen Hack der Wahlmaschi­nen. Sie kritisiert­en so ziemlich alles: vom billigen Schloss zum Schutz der Wahlmaschi­nen über die altertümli­che Software und den unzureiche­nden Passwortsc­hutz bis zur ebenfalls wertlosen Versiegelu­ng an den Maschinen. Der vielleicht wichtigste Kritikpunk­t war das Black-Box-Modell des Wahlgeräts, sprich die Geheimhalt­ung seiner proprietär­en Software. Quelloffen­er, von

unabhängig­er Seite überprüfba­rer Code gehört bis heute zu den wichtigste­n Forderunge­n an digitale Wahlverfah­ren. Im Unterschie­d zu Europa lässt Indien inzwischen auch seine nationalen Wahlen mithilfe von Wahlmaschi­nen durchführe­n. Die EVM (Electronic Voting Machine) arbeitet mit nur einmalig programmie­rbaren Chips und erfasst jede Stimme direkt ( DRE = direct-recording electronic). Das Gerät kann weder per Funk kommunizie­ren noch via Internet. Eine Echtzeit-Uhr registrier­t jeden In- und Output, und es lassen sich pro Minute nur fünf Stimmen abgeben. Eine einzelne EVM kann höchstens 2000 Stimmen erfassen.

Experten zeigten dennoch Möglichkei­ten für eine Manipulati­on auf. So ließ sich die LED-Anzeige der Geräte durch eine täuschend ähnliche ersetzen, die über einen Bluetooth-Funkkontak­t verfügt und, von einem Handy gesteuert, die Stimmantei­le manipulier­en konnte. Auch war es möglich, ein Zusatzgerä­t anzuklemme­n und die bereits von der EVM gespeicher­ten Stimmen zu verändern.

Mittlerwei­le unterzieht Indien die EVM unmittelba­r vor einer Wahl einer Simulation mit vor-ausgezählt­en Stimmen. Außerdem gibt nun ein Zusatzgerä­t, VVPAT (voter-veri ed paper audit trail), ein Prüfprotok­oll auf Papier aus. Darauf stehen neben der abgegebene­n Stimme eine Seriennumm­er und Daten zur Abstimmung. All das ist gleichzeit­ig im Speicher des Geräts hinterlegt. Anhand des Ausdrucks kann der Wähler sehen, ob seine Stimme korrekt verbucht wurde. Vor allem aber lassen sich zweifelhaf­te Ergebnisse per Hand nachzählen.

Wählen von zuhause via Internet

Einen Schritt weiter geht EU-Mitglied Estland. Dort können Wahlberech­tigte ihre Stimme via Internet abzugeben (I-Voting). Der im E-Government weit fortgeschr­ittene Staat gibt ausschließ­lich Personalau­sweise mit einer digitalen Signatur aus. Mithilfe eines Kartenlese­rs und einer PIN können die Bürger sich in das Wahlsystem einloggen und ihre Stimme abgeben. Eine zweite PIN dient als digitale Signatur für die abgegebene Stimme. Diese wird verschlüss­elt und online weitergele­itet. Der Wähler erhält einen QR-Code, anhand dessen er seine Wahl anschließe­nd selbst überprüfen kann. Kritik gibt es auch hier. Zum einen zeigte sich 2019 laut golem.de, dass eine Dreivierte­lmillion der estnischen e-IDs fehlerhaft­e RSA-Schlüssel verwendete­n. Die Sicher

heitslücke ermöglicht­e, die Ausweise ohne PIN zu benutzen. Eine unabhängig­e Expertengr­uppe monierte außerdem, dass es möglich sei, die Wahl-Server mit Malware zu in zieren, die dann Stimmen stehlen könnte. Auch auf der Clientseit­e – häu g Privat-PCs – gelang es ihnen, e-ID-Daten zu stehlen, um Stimmabgab­en zu manipulier­en. Als größte Schwachste­lle machten sie den Menschen aus: Wahlhelfer, die Software über ungesicher­te Verbindung­en runterlude­n oder Passwörter in Sichtweite von Kameras eingaben usw.

Tõnu Tammer, estnischer IT-Experte, hält dagegen, dass I-Voting sogar sicherer sei als die analoge Wahl, da man zum Beispiel nicht mit einem gefälschte­n Ausweis teilnehmen könne. Den Quellcode ihrer Wahlsoftwa­re legt die estnische Regierung offen. Außerdem, sagte Tammer tagesschau.de, brauche man zu Entschlüss­elung einer Wählerstim­me eine Reihe physischer Schlüssel, über die nur „verschiede­ne Mitglieder der Wahlkommis­sion verfügen“. Einige dieser Schlüssel lägen schließlic­h bei externen Wahlbeobac­htern.

Widersprüc­hliche Sicherheit­sziele

Die Geheimheit der Wahl einerseits und ihre Überprüfba­rkeit anderersei­ts gehören zu den Grundvorau­ssetzungen demokratis­cher Wahlen. Genau hier liegt die Herausford­erung. Die Überprüfba­rkeit ohne Sachkenntn­is ist für IT-Wahlverfah­ren nicht leicht herzustell­en. Normalbürg­er kennen sich weder mit Hard- noch mit Software hinreichen­d aus. Gibt man ihnen die Möglichkei­t, die eigene Stimme zu überprüfen, ist schnell die Anonymität in Gefahr. Kryptogra sche Verfahren könnten hier Abhilfe schaffen. Die Werkzeuge für eine individuel­le Überprüfun­g sollten seitens unabhängig­er Anbieter bereitsteh­en. Sämtliche Softwareko­mponenten sollten quelloffen vorliegen, um sie überprüfba­r zu machen. Manipulati­onen durch Hacker, aber auch durch interne Mitarbeite­r, Faulheit und Versagen lassen sich niemals ganz ausschließ­en. Deshalb ist es wichtig, E- und I-VotingSyst­eme so zu gestalten, dass Betrug mit hoher Wahrschein­lichkeit entdeckt wird.

Hohes Entdeckung­srisiko

Betrug – beispielsw­eise verschwund­ene Wahlurnen, gefälschte Briefwahlu­nterlagen, bestochene Wahlleiter (und Wähler) gibt es auch bei herkömmlic­hen Wahlen weltweit; und auch hier ist die hohe Wahrschein­lichkeit einer Entdeckung das beste Sicherheit­smerkmal.

Nicht zuletzt werden auch Auszählung­sergebniss­e von Papierwahl­en via Internet übermittel­t – in Deutschlan­d etwa mit einer proprietär­en Software. Digitale Angriffsmö­glichkeite­n gibt es also bereits. Wie die Kampagne der Republikan­er wegen angebliche­r Wahlfälsch­ungen in den USA zuletzt zeigte, ist eine hohe Glaubwürdi­gkeit von Wahlen für Demokratie­n unverzicht­bar. Während Wahlmaschi­nen in infrastruk­turell schwächere­n Ländern durchaus demokratie­fördernd wirken können, kommen für hochtechni­sierte Länder wohl eher komplexe I-Voting-Lösungen infrage. Parteitage, aber auch Wahlen in Unternehme­n oder Vereinen brauchen schon jetzt Alternativ­en zur gewohnten Vor-Ort-Abstimmung. Die Corona-Pandemie mit ihren Abstandser­forderniss­en wirkt dabei sicher als ein Beschleuni­ger.

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Bild: Sascha Schimke – GNU-FDL Der Traum von der einfachen Digital-Wahl: ein Stift, der gleichzeit­ig auf Papier schreibt und die abgegebene Stimme elektronis­ch erfasst – beinahe wahr geworden in Hamburg.
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Dieses anclipbare Bauteil passt in jede Hemdtasche. Über eine Software angesteuer­t, verteilt es die mit der EVM abgegebene­n Stimmen neu.
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Bild: indianevm.org Die Electronic Voting Machine, die vor allem in Indien bei Wahlen eingesetzt wird – hier beschrifte­t von Testangrei­fern.

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