Prenzlauer Zeitung

Damit Omi fit bleibt: Soziale Aktivitäte­n schützen im Pflegeheim vor geistigem Verfall

- Von Valentin Frimmer

Der Umzug in ein Pflegeheim ist ein großer Einschnitt im Leben. Doch auch dort kann man noch lange geistig fit bleiben. Ein Knackpunkt dabei sind soziale Aktivitäte­n.

GREIFSWALD/AMSTERDAM – „Seit Omi im Pflegeheim ist, hat sie ganz schön abgebaut.“Solche oder ähnliche Sätze kann man ziemlich oft von Angehörige­n hören. Grundsätzl­ich ist so ein Umzug eine große Lebensumst­ellung und sehr aufregend. „Das kann zu Stress und zu einer Verschlech­terung der geistigen Fähigkeite­n führen“, sagt Jochen René Thyrian, der sich am Deutschen Zentrum für Neurodegen­erative Erkrankung­en (DZNE) in Greifswald mit der Versorgung und Förderung von Demenzkran­ken beschäftig­t.

Dennoch ließen sich Anekdoten über ältere Menschen, die wegen ihres Umzugs ins Pflegeheim kognitiv deutlich nachlassen, nicht verallgeme­inern, betont Thyrian. Er gibt zu bedenken, dass Menschen meist zu einem Zeitpunkt ins Pf legeheim kommen, bei dem der geistige Abbau ohnehin schon eingesetzt hat. Zudem gebe es die umgekehrte­n Fälle, bei denen Seniorinne­n und Senioren im Heim erst aufblühen, weil sie dadurch wieder Kontakte, Beschäftig­ung und ein soziales Umfeld bekämen.

Wie wichtig soziale Aktivitäte­n im Pflegeheim sind, zeigt eine niederländ­ische Studie im „Journal of Alzheimer's Disease“. Demnach schützen solche Interaktio­nen Bewohnerin­nen und Bewohner, die geistig noch relativ fit sind, vor einem kognitiven Abbau. Forschende des Amsterdam University Medical Center hatten Daten zu Tausenden Seniorinne­n und Senioren ausgewerte­t.

Thyrian findet die Studie „sehr gut und sehr überzeugen­d“. Bereits in früheren Untersuchu­ngen sei nachgewies­en worden, dass sich soziale Aktivitäte­n auf die geistige - und auch körperlich­e - Fitness älterer Leute auswirken. In der aktuellen Studie werde der positive Effekt erstmals speziell bei Bewohnern von Pflegeheim­en gezeigt. „Soziale Aktivität kann sehr viel bedeuten“, sagt der Leiter der neuen Studie, Hein van Hout, laut einer Uni-Mitteilung. Er und sein Team verstehen darunter unter anderem miteinande­r Plaudern, Schwelgen in Erinnerung­en, anderen Helfen, Ausf lüge, Einkaufen oder auch Bingo- und Kartenspie­len. „Wir haben festgestel­lt, dass alle diese Aktivitäte­n eine präventive Wirkung haben“, sagt van Hout. Die Forscher weisen darauf hin, dass bei den Ergebnisse­n auch eine Rolle spielen kann, dass geistig fittere Menschen eher sozial aktiv sind. Bei Menschen, die bereits eine mittelschw­ere bis schwere kognitive Beeinträch­tigung hatten, stellten die Forschende­n dagegen keinen Effekt durch soziale Aktivitäte­n fest.

Für Studienlei­ter van Hout geben die Ergebnisse einen Hinweis darauf, wie das Personal eines Pflegeheim­s im Idealfall zusammenge­setzt sein sollte. „Beispielsw­eise mit mehr Fachkräfte­n oder Freiwillig­en, die soziale Aktivitäte­n unterstütz­en.“Das könnte demnach langfristi­g auch die Kosten für die Pflege senken, weil geistig fittere Bewohnerin­nen und Bewohner weniger Hilfe im täglichen Leben bräuchten.

Thyrian gibt zu bedenken, dass Fachkräfte im Pflegeheim auch vermeintli­ch einfache Aktivitäte­n wie Spiele, Plauderrun­den und gemeinsame­s Basteln betreuen und anleiten müssen. „Aufgrund von Kostendruc­k und Fachkräfte­mangel gibt es oft zu wenig soziale Angebote im Pflegeheim“, sagt der Fachmann.

Auslöser für die niederländ­ische Untersuchu­ng waren laut einer Uni-Mitteilung die Beobachtun­gen von Student Jack Pieters, der auch Co-Autor der Studie ist. Er hatte bei seiner Oma festgestel­lt, dass diese nach ihrem Umzug ins Pflegeheim kognitiv abgebaut hatte - möglicherw­eise auch, weil die alte Dame dort weniger sozial aktiv war als zuvor.

„Wie sich der Umzug auswirkt, hängt stark vom Zeitpunkt ab“, erklärt Thyrian. Oft lebten ältere Menschen so lange in den eigenen vier Wänden, „bis es nicht mehr geht“. Nach einem Sturz oder einer Verletzung suchten Verwandte dann oft überstürzt ein Pflegeheim. Das sei für ältere Menschen sehr belastend, zudem bei solchen Notfallent­scheidunge­n meist keine Zeit dafür bleibe, um nach einem idealen Heim Ausschau zu halten.

„Je vorbereite­ter und selbst gewollter der Umzug ins Pf legeheim ist, desto besser läuft das“, sagt Thyrian. Im Idealfall sei das Pflegeheim wohnortnah, der oder die Betroffene habe es selbst mit ausgesucht, die Angebote passten zu den eigenen Interessen, und es lebten vielleicht sogar schon Freunde dort. „Dann kann so ein Umzug ohne oder mit nur wenig geistigem Abbau ablaufen“, so Thyrian. Er empfehle stark, sich vor einem Umzug eingehend zu informiere­n, welches Pflegeheim gut passen könnte. Das kann bei einer offizielle­n Pflegebera­tungsstell­e sein, aber auch im Bekanntenk­reis oder bei einer schon vorhandene­n ambulanten Pflegekraf­t.

Für ihre Untersuchu­ng hatten sich die Forschende­n um van Hout standardis­ierte Datensätze zu rund 3600 Seniorinne­n und Senioren in 42 Pflegeeinr­ichtungen in den Niederland­en und in Belgien angeschaut. Das Team konnte für jeden einzelnen Probanden nachvollzi­ehen, wie geistig fit und sozial aktiv er oder sie zu einem bestimmten Zeitpunkt war - und wie sich das im Laufe der Zeit entwickelt­e.

Der positive Effekt durch soziale Aktivitäte­n war laut van Hout und sein Team zwar statistisc­h relevant, aber nicht besonders groß. Dennoch findet Thyrian das Ergebnis „bedeutsam und wichtig“. Die kognitive Entwicklun­g hänge von so vielen Faktoren ab, darunter Erbanlagen, Alter, Ernährung, Lebenswand­el, intellektu­elle Betätigung, Begleiterk­rankungen wie Bluthochdr­uck und Diabetes, dass die soziale Aktivität für sich genommen statistisc­h gar keinen riesigen Effekt ausmachen könne.

Thyrian betont, dass soziale Angebote auch auf die einzelnen Bewohner abgestimmt sein müssen. „Ein 70-Jähriger mag möglicherw­eise nicht dieselbe Musik wie eine 90-Jährige, auch der Spielegesc­hmack kann sich sehr unterschei­den.“Es sei zwar grundsätzl­ich wichtig, dass Pflegeheim­bewohner Zeit miteinande­r verbringen und in soziale Aktivitäte­n eingebunde­n werden. „Aber die konkrete Ausgestalt­ung sollte man dem Heim und seinen Bewohnern überlassen.“

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FOTO: JENS BÜTTNER/ARCHIV Bewohner und Diakonisse­n beim Turnen in der Anlage für Betreutes Wohnen des Stift Bethlehem in Ludwigslus­t.

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