Prenzlauer Zeitung

Radwegekir­chen sind mehr als Ruhepunkte für Radler

- Von Oliver Gierens

Sie sind Oasen der Erholung nach einer schweißtre­ibenden Tour auf zwei Rädern: Radwegekir­chen laden nicht nur gläubige Menschen zu einer ausgiebige­n Rast ein, sondern bieten auch sonst einiges. Manche Gotteshäus­er erzählen eine besondere Geschichte.

HELLE/PERLEBERG – Jeden Tag schließt Jutta Röder morgens gegen 9 Uhr die kleine Dorf kirche im brandenbur­gischen Helle (Landkreis Prignitz) auf. Um 19 Uhr, während der Sommermona­te eine Stunde später, sperrt sie den schmucken Jugendstil­bau von 1913 in der Regel wieder zu. Seit September 2020 ist das Gotteshaus eine von zehn Radwegekir­chen in der Prignitz. Zwar liegt das beschaulic­he Runddorf mit der markanten Kirche in der Dorfmitte recht abgelegen, doch für Fahrradtou­risten ist es ein wichtiger Knotenpunk­t. Hier kreuzen sich drei Radwege: Die „Tour Brandenbur­g“, der nach Angaben der märkischen Touristike­r längste Radfernweg Deutschlan­ds, sowie zwei regionale Radwege, die „Bischofsto­ur“und die „Gänsetour“, die touristisc­he Höhepunkte in der Prignitz miteinande­r verbinden.

Kirchen sind oft markante Landmarken und daher für Radler leicht zu finden. Rund 800 von ihnen tragen bundesweit das offizielle Signet „Radwegekir­che“, das von der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d vergeben wird, davon aktuell 47 in Brandenbur­g. Tatsächlic­h dürfte es noch viel mehr Gotteshäus­er geben, die einzelne Gemeinden für Radfahrer oder Wanderer öffnen. „Egal aus welcher Richtung, die Kirche steht mitten im Dorf“, sagt Jutta Röder. Sie bietet nach einem ausgiebige­n Pedalritt einen Ort der Ruhe, der Entspannun­g und Erholung – sei es rein körperlich oder auf geistliche Weise. In Helle lädt schon auf der Wiese vor dem Eingang eine Sitzbank, deren Armlehnen aus alten Fahrradrei­fen gestaltet sind, zum Ausruhen ein.

Im Innenraum finden Besucher dann einen Aufsteller mit Karten und touristisc­hen

Informatio­nen, auch kleine geistliche Impulse gibt es zum Mitnehmen. Wasserf laschen oder Taschentüc­her sind ebenfalls vorhanden, die Gemeinde freut sich über eine kleine Spende. Der aufwendig ausgemalte und reich verzierte Innenraum im Heimatstil lädt zudem zur Besichtigu­ng ein. Und die Besucher nehmen diese kleine Oase der Erholung offensicht­lich gerne an: „Wir erleben, dass die Gäste mit großer Wertschätz­ung und mit Respekt ihren Besuch abhalten“, sagt Jutta Röder. Vandalismu­s, Diebstahl oder andere Vorfälle habe sie bisher nicht beobachtet. „Das ist so eine Freude. Sie nehmen mit, was für sie bestimmt ist – und alles andere bleibt da.“

Die Kirche in Helle erfüllt alle Kriterien, die von der Evangelisc­hen Kirche BerlinBran­denburg-schlesisch­e Oberlausit­z (EKBO) verlangt werden: Sie liegt in unmittelba­rer Nähe zu einem Radwanderw­eg und ist mindestens in der Zeit von Ostern bis zum Reformatio­nstag oder Allerheili­gen Ende Oktober bzw. Anfang November tagsüber frei zugänglich. Ebenso soll das Gotteshaus durch Hinweissch­ilder auf dem Radweg und an der Kirche als Radwegekir­che gekennzeic­hnet sein. Dafür gibt es ein eigenes grünes Signet, das die evangelisc­hen Landeskirc­hen deutschlan­dweit verleihen. einheitlic­h

Bänke, Toiletten und Zugang zu Strom zum Auf laden Ebenso soll der Kirchenrau­m zu Besinnung und Gebet einladen, beispielsw­eise durch ausliegend­e geistliche Texte oder Angebote von Seelsorge und Andachten. Draußen sollte es neben Tischen und Bänken beispielsw­eise auch Fahrradstä­nder, Waschgeleg­enheiten oder Toiletten geben. Weitere – aber nicht zwingende – Kriterien sind Karten und touristisc­hes Infomateri­al oder Stromzugän­ge beispielsw­eise für das Aufladen von E-Bikes oder Handys.

Auch beim Tourismusv­erband Prignitz gehören Radwegekir­chen fest zum Konzept. Sie seien ein wichtiger Bestandtei­l zur Förderung der Radinfrast­ruktur und in das touristisc­he Marketing integriert, sagt Sprecherin Kati Bork. Geplant sei, dass die Radwegekar­ten, die Ende dieses Jahres für 2025 neu aufgelegt würden, erstmals auch die Radwegekir­chen beinhalten sollen. Zudem sei der Evangelisc­he Kirchenkre­is aktives Mitglied im Tourismusv­erband. „Gemeinsam streben wir danach, weitere Kirchen als Radwegekir­chen zu gewinnen, um das Angebot für Radfahrer zu erweitern“, betont Bork. Auf diese

Weise wolle man Besuchern eine ganzheitli­che Erfahrung bieten, die auch die reiche kulturelle und spirituell­e Vielfalt der Region umfasse.

In einer ganz anderen Ecke von Brandenbur­g steht die Auseinande­rsetzung mit der deutschen und europäisch­en Geschichte im Vordergrun­d. Die Radfahrerk­irche in Ratzdorf bei Neuzelle (Oder-Spree) direkt am Zusammenfl­uss von Oder und Neiße präsentier­t zugleich eine kleine Ausstellun­g zur besonderen Geschichte der Region. Das kleine Gotteshaus ist eine der wenigen Kirchen, die zu DDRZeiten neu erbaut wurden. Die Dorfbewohn­er gingen einst zum Gottesdien­st auf die rechte Seite von Oder und Neiße, bis die Gebiete nach 1945 zu Polen kamen. Unter widrigen Umständen begann man daher Ende der 1950erJahr­e, die alte Pfarrscheu­ne zur Kirche umzubauen. 2013 wurde die Kirche grundlegen­d saniert und zur Ausstellun­gsund Radfahrerk­irche umgebaut.

Zuletzt weniger Besucher als noch vor Corona

Doch trotz der besonderen Lage und Geschichte gehen die Besucherza­hlen zurück, erzählt Eva-Marie Schulze, die sich für die evangelisc­he Kirchengem­einde um die Radwegekir­che kümmert. „Wir haben heute immer noch weniger Besucher als vor Corona“, sagt Schulze. Dann sei noch der Deich wegen der Schweinepe­st lange gesperrt gewesen. Auch die Gaststätte im Dorf sei mittlerwei­le geschlosse­n. Mittlerwei­le gebe es nur noch wenige Angebote in der Kirche. „Es schläft langsam ein“, sagt Schulze.

Für die Region bleibt die Radwegekir­che dennoch von Bedeutung. Laut dem Amt Neuzelle wird sie in eigenen Publikatio­nen sowie in Kooperatio­nen mit dem Tourismusv­erband Seenland OderSpree thematisch eingebunde­n. Auch in Radfahrkar­ten sei die Kirche ausgewiese­n. Die Radwegekir­chen seien ein wichtiges Thema, welches bei der Produkt- und Tourentwic­klung stets mitgedacht werde, heißt es vom Tourismusv­erband. In touristisc­hen Broschüren würden die Kirchen stets mit vermarktet.

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FOTO: PATRICK PLEUL Kirchen an Radwegen laden nicht nur zum Gebet, sondern auch zu Ruhe und Erholung ein.
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FOTO: PATRICK PLEUL Nicht nur in Brandenbur­g, wie hier in Ratzdorf bei Neuzelle, gibt es Kirchen entlang großer überregion­aler Radwege.
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FOTO: PATRICK PLEUL Radwegekir­chen stehen Reisenden auf zwei Rädern zumindest in der warmen Jahreszeit den ganzen Tag über offen.

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