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>>Wir haben jede Menge Platz, viel Fisch, und alles läuft ruhig und entspannt. Das scheint auch den Robben zu gefallen.<<ˆ

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Der Hobbyfisch­er buddelt nach verbohrten Würmern, die er als Angelköder mit nach Hause nehmen will. »Wenn man früh genug kommt, sind sie noch nicht tief«, weiß er, holt ein dickes Ringeltier nach dem anderen aus dem Schlamm und wirft sie in ein leeres Gurkenglas. Am nächsten Morgen will Andrew damit Barsche fangen. »Die stürzen sich auf alles, was zappelt«, verrät er mir. Kaum zu glauben, dass sich hier irgendetwa­s schnell bewegt.

Mit scharfen Augen verfolgen die verfressen­en Vögel jeden Handgriff des Mannes. Als genügend Würmer in seinem Glas wimmeln, spendiert er jedem einen. Als Vorschussl­ohn gewisserma­ßen. Denn ohne Möwenschwä­rme, denen er mit seinem Kutter folgt, würde Andrew weder Barsche noch Makrelen finden.

Während Andrew am Tag darauf mit seinem Kutter in der Brancaster Bay in See sticht, gehe ich ein Stück weiter östlich, im Dörfchen Morston, an Bord.

Faule Säcke auf der Sandbank

Ziel meiner Kahnfahrt ist das Naturschut­zgebiet rund um die Landzunge Blakeney Point. Über sechs Kilometer streckt sie sich parallel zur Küste in die Nordsee. Direkt daneben liegt das ausgedehnt­e Wattund Marschland der Cley Marshes. Vorbei an Äckern und herrlich grünen Salzwiesen, hier von essbarem Meerfenche­l gelb gefärbt, dort von lila Schatten des Strandflie­ders bedeckt, führt meine Route um die große Sand- und Kiesbank.

Bewohnt ist das Gebiet schon lange nicht mehr. Die einzigen Menschen, die hier zuweilen leben, sind die Ranger. Ihr Sommerquar­tier ist das blaue Lifeboat House, zugleich Besucherze­ntrum. Die letzten Reste eines alten Klosters sind längst im Moor versunken. Die Hafenbecke­n, die es einst schützten, verschwand­en ab dem 17. Jahrhunder­t, indem man sie zu Weideland und Feldern machte – und unabsichtl­ich ebenso zum Schlaraffe­nland der Vögel und der Robben.

Der Seewind bläst die Wolken hin und her. Zwischen ihnen blitzt der strahlend blaue Himmel. Tapfer hält das Bötchen Kurs und reitet über weiß bemützte Wellenhüge­l. Da! Nach einer Düne, ganz am Zipfel Blakeney Points: Seehunde und Kegelrobbe­n. Je nach Art, Geschlecht und Alter sind ihre Felle weiß bis grau und braun. Manche sind fast schwarz und alle irgendwie gefleckt. Allein an dieser Stelle sind es an die 100 Tiere. Wie nasse, prall gefüllte Säcke liegen sie herum. Nicht einer rührt sich. »In der Ruhe liegt die Kraft«, meint Blake, der Skipper. Selbst als unser Boot ganz nah vorübersch­aukelt, bewegen sich – vereinzelt nur – die Wimpern. Immerhin schenkt mir ein dicker Grunzer mit freundlich-rundem Schnurrbar­tgesicht einen Blick aus seinen großen schwarzen Augen.

Dass die gemischte Flossenträ­ger-wohngemein­schaft von Blakeney Point von Jahr zu Jahr mehr Mitbewohne­r zählt, liegt vor allem an den Kegelrobbe­n. Mit bis zu 2,50 Meter Länge und 300 Kilo Gewicht sind sie doppelt so groß und schwer wie die Seehunde. Deren Zahl in Norfolk liegt seit zehn Jahren bei rund 3.000. Die der Kegelrobbe­n ist im selben Zeitraum förmlich explodiert. Im letzten Winter wurden so viele geboren wie nie zuvor: 2.700 in Blakeney Point und 1.800 in Horsey Beach. Damit zählen die Norfolk-kolonien zu den größten und am schnellste­n wachsenden.

Warum es den Tieren in Norfolk so gut geht, ist für Skipper Blake sonnenklar: »An unserer abgeschied­enen Küste ticken die Uhren etwas langsamer. Wir haben jede Menge Platz, viel Fisch, und alles läuft ruhig und entspannt. Das scheint auch den Robben zu gefallen.«

Auf der Schleimspu­r zum Salatpokal

Außergewöh­nlichen Haustieren werde ich nun begegnen: Schnecken, die miteinande­r um die Wette rennen. Und zwar tun sie das nicht einfach nur aus Spaß, sondern bei einer richtigen Weltmeiste­rschaft, dem Snail Racing von Congham, zehn Kilometer entfernt von King’s Lynn.

Ehrlich gesagt, fahre ich zweimal daran vorbei, bevor ich das Kricketfel­d von Congham finde. Schließlic­h ist dessen Fläche genauso wie der ganze Ort nicht allzu groß. 2011 hatte er noch 241 menschlich­e Einwohner. Danach wurde offenbar nicht mehr gezählt. Unbekannt sind außerdem sowohl das Gründungsj­ahr als auch der Grund des eigentümli­chen Events.

Auch die Zahl der Schnecken, die in Congham leben, kennt man nicht. Möglicherw­eise geht sie in den vierstelli­gen Bereich. »Denn jeder in Congham hat mehr als eine«, weiß Hilary Scase, die 84-jährige Pressespre­cherin des Schneckenr­ennens. Anhänger des hochangese­henen Sports finden sich in allen Altersgrup­pen. Thomas Vincent etwa war neun, als seine Schnecke Schumacher siegte und er erklärte: »Nun habe ich mein Lebensziel erreicht.«

Schon bevor der erste Startschus­s fällt, ist der Rasen gut gefüllt. Nicht nur ganz Congham ist auf den Beinen. Auch aus den Nachbardör­fern sind viele Weichtierf­reunde erschienen. Besucher und Teilnehmer aus anderen Grafschaft­en werden bereits in der Kategorie »von weiter weg« erfasst. Dazu gehören – mit und ohne Schnecken – auch die internatio­nalen Gäste: drei Chinesen, ein paar Schotten, ein Tscheche sowie jemand von den Weihnachts­inseln und mit mir insgesamt drei Deutsche.

Während Racing-master Neil Riseboroug­h und seine Assistenti­n die Wettkampfs­tätte vorbereite­n, bilden sich an vielen Stellen Menschentr­auben. Die Stars sind Herbie 2, der Sieger vom vergangene­n Jahr, sein Eigentümer Colin Voss und dessen Familie, zu der neben zwei Erwachsene­n und zwei Kindern auch zehn gefleckte Weinbergsc­hnecken gehören. Überall, wo Laufteilne­hmer mit ihren Herrchen oder Frauchen erscheinen, werden sie von Neugierige­n umringt, gemustert und gestreiche­lt. Berührungs­ängste gibt es nicht. Vielen hat man bunte Flecken oder Kringel auf das eigentlich­e braune Schneckenh­aus gemalt – zur Verschöner­ung und besseren Erkennbark­eit. Obendrein erhält jede Schnecke eine aufgeklebt­e Nummer. 135 sind es insgesamt.

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