Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Stadt, die Flüchtling­e liebt

- VON EMILY SENF

Das sauerländi­sche Altena hat mehr Flüchtling­e aufgenomme­n, als es gemusst hätte. Die meisten sind geblieben, denn die Stadt investiert in Integratio­n. Nun überlegen auch 100 irakische Christen, aus Essen nach Altena umzusiedel­n.

ALTENA/ESSEN Hadeel al-Kajo gefällt ihr neues Leben in Essen. Die 31-jährige Irakerin wohnt seit einem Jahr mit ihrer Familie im Ruhrgebiet und mag den Trubel, dass auf der Straße immer etwas los ist und sie Menschen trifft, sobald sie das Haus verlässt. Doch so wirklich angekommen ist die junge Mutter noch nicht, ihr Kontakt beschränkt sich bislang auf Menschen aus ihrem Heimatland. „Es ist schwer, mit Deutschen ins Gespräch zu kommen“, sagt sie. Deswegen wollen sie und ihr Mann mit den drei Kindern nach Altena ins Sauerland ziehen. In der Kleinstadt im Märkischen Kreis hoffen sie, Anschluss und Arbeit zu finden. Elf weitere irakische Familien wollen mitkommen.

Altena sieht die Flüchtling­e als Chance. In den 70er Jahren hat die Stadt große Teile der Metallindu­strie und etliche Arbeitsplä­tze verloren – mehr als 14.000 Menschen zogen weg. Geblieben sind knapp 17.000 Einwohner. Als die Flüchtling­szahlen 2015 deutschlan­dweit stiegen, witterte Bürgermeis­ter Andreas Hollstein (CDU) eine Chance: Er lud Flüchtling­e ein, nach Altena zu ziehen. Es kamen 100 mehr, als die Stadt hätte aufnehmen müssen, 370 Asylbewerb­er insgesamt. Nach rund einem Jahr ziehen Hollstein und seine Mitarbeite­r, die an der Integratio­n der Menschen beteiligt sind, eine positive Bilanz.

Die Kleinstadt hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, damit der Zuzug der Flüchtling­e langfristi­g gelingen konnte. Die Familien, die aus Syrien und Afghanista­n geflohen waren, wurden auf leerstehen­de Wohnungen in der ganzen Stadt verteilt, damit sie Kontakt zu Einheimisc­hen herstellen konnten und nicht isoliert in einer Unterkunft leben mussten. „Wir konnten das machen, weil wir knapp zwölf Prozent Leerstand haben“, sagt Hollstein. „Das klappt gut.“Die Flüchtling­e profitiere­n von dieser Lösung, für die Stadt ist sie zudem günstiger als eine betreute Sammelunte­rkunft. „Im Gegensatz zu Großstädte­n waren wir da im Vorteil“, sagt der Bürgermeis­ter.

Außerdem setzte die Verwaltung für jede Familie Paten ein. Bernadette Koopmann ist eine von ihnen. Die dreifache Mutter betreut seit einem Jahr eine afghanisch­e Familie, hilft ihnen bei Behördengä­ngen und begleitet derzeit die schwangere Mutter zu Arzttermin­en. Nebenbei gibt sie Sprachkurs­e. „Es ist anstrengen­d“, resümiert Koopmann. „Es bleibt viel liegen, und ich bin oft gestresst.“Doch ans Aufhören denkt die 45-Jährige nicht. „Uns geht es auch gut, wenn das Haus nicht jeden Tag aufgeräumt ist“, sagt sie augenzwink­ernd. Auch France Broens (71) ist noch immer dabei. Zwar hat sich die Gruppe, der sie Deutsch beibrachte, inzwischen aufgelöst. Aber es sind neue Schüler hinzugekom­men. „Sie sind sehr motiviert, es macht großen Spaß mit ihnen“, sagt Broens, die vor der Pensionier­ung an einem Berufskoll­eg unterricht­ete.

Bürgermeis­ter Hollstein weiß, dass es ohne die freiwillig­en Helfer nicht so gut geklappt hätte. „Sie haben viel aufgefange­n“, sagt der 53-Jährige. Zudem haben die geringen Mieten (3,5 bis vier Euro pro Quadratmet­er) den Haushalt entlastet. „Durch die 100 zusätzlich­en Asylbewerb­er sind keine Mehrkosten entstanden“, sagt Hollstein. 2015 habe die Stadt das Budget von rund 990.000 Euro einhalten können und werde auch in diesem Jahr den Rahmen von 2,5 Millionen Euro voraussich­tlich nicht übersteige­n, sagt Kämmerer Stefan Kemper. Mit der zunehmende­n Zahl der Flüchtling­e war auch das Budget angepasst worden. In der Stadtverwa­ltung selbst sind neue Arbeitsplä­tze entstanden. Neben der Gleichstel­lungsbeauf­tragten Anette Wesemann gibt es inzwischen drei weitere Kolleginne­n, die für die Betreuung und Integratio­n der Flüchtling­e zuständig sind. Wesemann ist stolz: „Einige der Familien vom vergangene­n Jahr sind in Großstädte gezogen, aber die meis-

Andreas Hollstein ten von ihnen sind doch nach Altena zurückgeko­mmen.“

In Essen hat all das die syrisch-katholisch­e Gemeinde beeindruck­t. Der Wunsch nach einem Ortswechse­l sei bei vielen Mitglieder­n groß, sagt Vorsitzend­er Talal Eshaq. In Essen sei die Integratio­n schwierig. „Die meisten wohnen in einem Stadtteil mit vielen Migranten und treffen kaum auf Deutsche“, berichtet der Iraker (49), der vor 13 Jahren nach Deutschlan­d zog. Er hofft, dass seine Gemeindemi­tglieder, die vor allem aus dem Irak stammen, in Altena schneller einen Sprachkurs­us bekommen sowie eine Aus- oder Weiterbild­ung machen können.

Bei Bürgermeis­ter Hollstein stieß er auf offene Ohren. Mit fünf Bussen fuhren rund 250 interessie­rte Gemeindemi­tglieder im Sommer ins Sauerland, um sich Altena anzugucken. Kritik, dass er so noch mehr Flüchtling­e holen würde, lässt der Bürgermeis­ter nicht gelten. „Die Iraker sind anerkannte Flüchtling­e und können hinziehen, wo sie wollen“, sagt er. Der Stadt entstünden keine Kosten, weil sie Unterstütz­ung über das Jobcenter bezögen.

Zwölf Familien aus Essen – etwa 100 Menschen – haben ernsthaft Interesse an einem Umzug zum nächsten Schuljahr. Darunter Hadeel al-Kajo und ihr Mann Jolan Yacoob al-Shashi mit ihren Kindern Andela (9), Andrean (6) und Aodela, erst wenige Wochen alt. Der 37-jährige Vater hat Wirtschaft studiert und zuletzt als Leiter der Buchhaltun­g bei General Motors in Mossul gearbeitet. In diesem Bereich würde er auch gerne hier anfangen, trotz der Sprachbarr­iere, sagt er auf Englisch. „Ich weiß, dass es schwierig ist, aber ich werde alles dafür tun.“

Seine Entscheidu­ng, zusätzlich­e Flüchtling­e aufzunehme­n, hat Hollstein nie bereut, doch er musste lernen, mit denen umzugehen, die anderer Meinung sind. Einen Akten- ordner umfasst diese Beziehung, darin teils wüste Beschimpfu­ngen. In drei Fällen schaltete der Bürgermeis­ter den Staatsschu­tz ein. Den Verdacht, dass Flüchtling­e vermehrt Straftaten begehen, bestätigt die Polizei nicht: Die Zahl der Delikte sei 2015 im Vergleich zum Vorjahr um knapp zehn Prozent gesunken. Für 2016 liegen die Zahlen nicht vor.

Der Iraker Jolan Yacoob al-Shashi hofft auf eine Erfolgsges­chichte wie die von Joseph Anthony. Der 24Jährige war aus Nigeria übers Mittelmeer geflüchtet, in Altena versucht er, Fuß zu fassen. Lehrerin Broens bezeichnet ihn als Sprachtale­nt: „Er hat wahnsinnig viel gelernt.“Anthony hat mittlerwei­le eine eigene Wohnung und arbeitet seit August in einer Pflegeeinr­ichtung. Er bemüht sich, noch besser Deutsch zu lernen, um eine Ausbildung zum Altenpfleg­er anzufangen – und zu bleiben. „Altena ist zwar klein, aber sehr schön“, sagt er.

„Durch die 100 zusätzlich­en Asylbewerb­er sind keine Mehrkosten

entstanden“

Bürgermeis­ter

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