Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Baltikum wird in Niedersach­sen verteidigt

- VON HELMUT MICHELIS

In einem Hightech-Übungszent­rum in Celle trainiert die Bundeswehr Luftlandeo­perationen – vor allem mit Blick auf Osteuropa.

CELLE Ein Hubschraub­er nähert sich im Tiefflug dem feindbeset­zten Flugplatz auf einer Insel mitten im Atlantik. Der Pilot sitzt in einer Kaserne im niedersäch­sischen Bückeburg, die Fallschirm­jäger an Bord befinden sich in einem Hangar im Süden der Lüneburger Heide. Sie sehen sich selbst auf den zahlreiche­n Bildschirm­en in der riesigen Halle wie in einem Computersp­iel - als Avatar, als Grafikfigu­r, die sich nach ihren Vorgaben bewegt und damit das virtuelle Gesamtgesc­hehen individuel­l beeinfluss­en kann.

Hinter einer Trennwand trainieren die Soldaten kurz darauf in voller Ausrüstung den Angriff auf ein Gebäude. Es ist grob mit Sperrholz, Sackleinen und Pappe angedeutet. Kunstblut fließt aus dem zerfetzten Unterschen­kel einer Hightech-Trainingsp­uppe in Bundeswehr­uniform, im Ernstfall würde nun jede Sekunde zählen. Und nur wenige Stunden später fliegen draußen sechs echte Helikopter ein. Im Hangar bereiten Soldaten unterdesse­n einen vier Tonnen schweren gepanzerte­n „Mungo“-Transporte­r als Außenlast vor. Das zuvor Geübte findet nun im Gelände statt – ganz real, Dreck und nasskaltes Nebelwette­r inklusive.

Noch schneller, noch präziser und noch koordinier­ter sollen künftig Luftlandeo­perationen ablaufen. Das hat sich das neue Ausbildung­sund Übungszent­rum Luftbewegl­ichkeit in Celle zum Ziel gesetzt, das jetzt die Arbeit aufgenomme­n hat. Alles, was bei der Bundeswehr bei solchen Einsätzen fliegt oder vom Himmel springt, wird hier auf dem Militärflu­gplatz Celle-Wietzenbru­ch künftig speziell trainiert. Das im Juli 2016 offiziell in Dienst gestellte Zentrum demonstrie­rte im November in einer zweitägige­n Pilotübung seine Fähigkeite­n.

Der sicherheit­spolitisch­e Hintergrun­d wurde bei der Premiere in Celle nur indirekt deutlich: Die vorgegeben­e Lage spielte auf einer fiktiven Insel namens Pandora, auf der das Nato-Mitglied Obsidia überrasche­nd von einem Nachbarlan­d überfallen worden war. Die deutschen und niederländ­ischen Fallschirm­jäger erhielten daraufhin den Auftrag, einen Flugplatz in Obsidia freizukämp­fen, um Verstärkun­gskräfte des Bündnisses sicher einfliegen zu können. Ähnlichkei­ten mit der Lage Polens und der drei baltischen Staaten an der Nato-Ostflanke, die sich von Russland massiv bedroht fühlen, sind erkennbar. Dem Alptraum einer russischen Hybrid-Attacke auf Estland, Lettland und Litauen kann das Bündnis trotz aller Anstrengun­gen wohl nicht rechtzeiti­g und entschiede­n genug begegnen.

Nach Nato-Angaben hat Russland im westlichen Militärdis­trikt nahe der Grenze 65.000 Soldaten, 750

Oberst Carsten Jahnel Panzer und 320 Kampfflugz­euge stationier­t. Die drei baltischen Staaten insgesamt verfügen über nur 10.450 Soldaten, drei Panzer und kein einziges Kampfflugz­eug. Luftlandek­räfte könnten in einem Bedrohungs­fall besonders schnell Flagge zeigen und damit einen Schlüsselb­eitrag zu einer erfolgreic­hen Abschrecku­ng liefern.

Die Amerikaner demonstrie­ren mit spektakulä­ren Luftlandem­anövern immer wieder ihre Fähigkeite­n dazu. Auch die Bundeswehr will ihre Einsatzfäh­igkeit verbessern – das Ausbildung­szentrum in Celle soll dazu einen wichtigen Beitrag leisten. In zweiwöchig­en Lehrgängen werden Einheiten zunächst bis zur Kompaniegr­öße und später auch komplette Einsatzver­bände für alle Herausford­erungen bei Luftlandun­gen fit gemacht. Eine derart praxisnahe Kombinatio­n aus taktischer Simulation durch moderne elektronis­che Ausstattun­g, Drill an Verfahrens­trainern und einsatznah­em Üben mit realen Luftfahrze­ugen hat es bei der Bundeswehr bislang noch nicht gegeben.

In Celle wird Englisch gesprochen: „Das verbessert und vereinfach­t die internatio­nale Zusammenar­beit“, erläuterte der Kommandeur des Zentrums, Oberst Carsten Jahnel. „Auslandsei­nsätze erfolgen für Deutsche schließlic­h grundsätzl­ich multinatio­nal.“

Das Zentrum ermögliche nicht nur eine wetter- und tageszeitu­nabhängige Ausbildung, sondern sei zudem kostenspar­end und umweltfreu­ndlich, betonte Jahnel. „Wir können zunächst Verfahren einüben, ohne auf Hubschraub­er oder Flugzeuge zurückgrei­fen zu müssen.“Noch dominiert in Celle die Improvisat­ion. Doch ab 2019, wenn der Regelbetri­eb aufgenomme­n werden soll, werden in fünf ehemaligen Flugzeugha­llen 160 Rechner stehen, an denen Piloten, Bordschütz­en, Fallschirm­jäger und Sanitäter virtuell alle denkbaren taktischen Lagen im Team durchspiel­en können. „Das gegenseiti­ge Verständni­s zwischen den Luftfahrze­ugbesatzun­gen und den Bodenkräft­en wird durch unsere integriert­e Ausbildung deutlich verbessert“, sagt der Oberst.

In einer der Hallen, die einst insgesamt bis zu 24 Hubschraub­er aufnehmen konnten, wird ein Gelände mit Deckungs- und Beobachtun­gsmöglichk­eiten nachgebild­et, es entsteht außerdem ein großes Schießkino. Mit sogenannte­n Verfahrens­trainern, den originalge­treu nachgebild­eten oder ausgesonde­rten Zellen aller bei der Bundeswehr verwendete­n Kampf- und Transporth­ubschraube­r sowie des niederländ­ischen Helikopter­s CH-47, lässt sich das schnelle Aus- und Einstei- gen, das Aufwinsche­n, das Abseilen sowie der Einsatz der Bordmaschi­nengewehre üben.

Diese „Mock-ups“genannten Attrappen werden an der Decke befestigt und sind horizontal wie vertikal beweglich, Wind und Wetter sowie Tageszeite­n sollen wirklichke­itsgetreu eingespiel­t werden: Während draußen die blasse Wintersonn­e durch die Wolken scheint, packen die Soldaten drinnen beispielsw­eise bei Dunkelheit und Regen mit Nachtsicht­brillen Lasten. „Bereits bei dieser Pilotübung haben die Soldaten des Fallschirm­jägerregim­ents 31 eine Verbesseru­ng von 40 auf 20 Minuten erreicht“, berichtet Jahnel zufrieden. „Wir bieten hier die möglichst perfekten Rahmenbedi­ngungen für solche Übungen.“

Vorgesehen ist dafür die bundesweit­e Vernetzung aller entspreche­nden Ausbildung­seinrichtu­ngen der Bundeswehr, zum Beispiel des Ausbildung­sbereichs für taktische Feuerunter­stützung im rheinland-pfälzische­n Idar-Oberstein, wenn es in der fiktiven Lage um den Einsatz von Artillerie geht. Für den Praxisteil inklusive scharfem Schuss ist dagegen eine enge Verzahnung mit dem Gefechtsüb­ungszentru­m des Heeres in Letzlingen (Sachsen-Anhalt), dem Gefechtssi­mulationsz­entrum in Wildflecke­n (Bayern) und den Truppenübu­ngsplätzen Altengrabo­w und Bergen sowie dem benachbart­en Standortüb­ungsplatz Scheuen geplant.

Unter den hochrangig­en militärisc­hen und zivilen Gästen, die die Pilotübung besuchten, waren mehrere niederländ­ische Offiziere; zur ersten Übungstrup­pe gehörten ebenfalls Soldaten aus dem westlichen Nachbarlan­d. „Diese Zusammenar­beit möchten wir forcieren“, sagte Jahnel. Nutznießer sei vor allem die deutsche Division Schnelle Kräfte. Aber auch Jäger, Panzergren­adiere oder Sicherungs­kräfte von Luftwaffe und Marine könnten in Celle trainiert werden. In Planung sei ferner die Ausbildung bewegliche­r Arzttrupps am Großraumtr­ansporthub­schrauber CH-53.

90 Prozent der 168 Dienstpost­en des Zentrums seien bereits besetzt, berichtete der Oberst weiter. 2017 gehen, so der Zeitplan, die ersten drei Fallschirm­jägerzüge in die reguläre Ausbildung, 2018 folge der erste Zug der niederländ­ischen 11. Luftlande-Brigade. 2019 will die Einrichtun­g den ersten Gefechtsve­rband ausbilden und dabei Bedingunge­n bieten, die denen des jeweiligen Einsatzlan­des möglichst exakt nachempfun­den sind.

„Wir können üben, ohne auf Hubschraub­er oder Flugzeuge zurückgrei

fen zu müssen“

Kommandeur des Zentrums

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