Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Montecristo
Herr Weber konzentrierte sich wieder auf den Dosenverschluss. Der kleine Mann mit dem tief in die Stirn gezogenen Haaransatz tat Jonas leid. Die bekümmerte Konzentration verstärkte noch das Äffchenhafte seines Gesichts. Jonas wollte ihm gerade seine Hilfe anbieten, als sich die Dose zischend öffnete und ein wenig Bier verspritzte.
„Der Hunderter war echt“, sagte Herr Weber, bevor er trank. „So echt wie der andere.“Er legte wieder den Zeigefinger an die Lippen. Pssst.
„Weshalb haben Sie dann gesagt, er sei falsch?“, fragte Jonas überrascht.
„Sie meinen, beim zweiten Mal? Beim zweiten Mal war er falsch. Jemand hat ihn vertauscht.“„Wer?“Zeigefinger an die Lippen. „Ich dachte, das Schließfach lasse sich nur mit zwei Schlüsseln öffnen? Dem der Bank und meinem?“
Herr Weber trank einen Schluck, bevor er antwortete. „Außer in Notfällen.“„Und das war ein Notfall?“Herr Weber lächelte geheimnisvoll. „Offenbar.“
Jonas war sich nicht sicher, ob Weber die Wahrheit sagte oder ob es sich nur um das Geschwätz eines Besoffenen handelte. „Mir hat man glaubhaft versichert, dass es ausgeschlossen ist, dass zwei Schweizer Banknoten aus Versehen die gleichen Nummern tragen.“
„Stimmt.“Wieder das geheimnisvolle Lächeln. „Na, also.“Herr Weber ließ sich Zeit. Trank einen Schluck, rülpste, entschuldigte sich. Erst dann belehrte er Jonas mit erhobenem Zeigefinger: „,Aus Versehen’ stimmt schon. Aber mit Absicht . . .“– „Sie glauben, die Coromag hat absichtlich Banknoten mit Seriennummern gedruckt, die es schon gibt?“
„Ich glaube das nicht.“Herr Weber suchte in seinen Innentaschen, fand eine Brieftasche und ließ sie fallen. Ein Teil ihres Inhalts rutschte heraus. Jonas wollte helfen, aber Herr Weber rief: „Stopp! Ich mach das!“
Er erhob sich aus dem Sessel, kauerte sich unsicher nieder, sammelte die Visitenkarten, Notizen, Banknoten und Ausweise zusammen und steckte sie wieder in die Brieftasche. Eine der Notizen behielt er in der Hand.
Er richtete sich auf und reichte sie Jonas.
„Gabor Takacs“stand darauf. Und eine Handynummer.
„Der glaubt das“, sagte Herr Weber und leerte die Dose. „Der hat in der Spedition gearbeitet, dort, wo sie die Banknoten drucken. Aber jetzt ist er auch“– er machte wieder das Halsabschneiderzeichen – „finito, kaputt.“
Herr Weber streckte Jonas die Hand entgegen. „So. Ich lasse Sie jetzt. Danke für das Bier.“
Jonas schüttelte die kleine Hand und begleitete ihn zur Wohnungstür. Angesichts von Herrn Webers unsicherem Gang fragte er: „Soll ich Ihnen nicht ein Taxi rufen?“
„Nicht nötig, ich wohne gleich um die Ecke.“Dann fügte er bitter hinzu: „Gehdistanz zum Arbeitsplatz.“
Jonas begleitete ihn die Treppe hinunter.
An der Haustür deutete Herr Weber auf den Zettel, den Jonas noch immer in der Hand hielt. „Ich habe ihm gesagt, dass Sie anrufen werden.“
Am Gartentor wandte er sich noch einmal zu Jonas um, der in der Haustür stehengeblieben war, und legte wieder den Zeigefinger an die Lippen. Jonas tat das Gleiche. Der Mann mit dem ungarischen Namen „Gabor Takacs“sprach breites Zürichdeutsch. Er war 1966 in Schwamendingen geboren, zehn Jahre nach dem Ungarnaufstand, als drittes Kind ungarischer Flüchtlinge. Das alles hatte er Jonas in den ersten Minuten ihrer Begegnung erzählt.
Jonas war an der Banknotensache nicht mehr interessiert und voll ausgelastet mit den Vorarbeiten für Montecristo. Dafür hatte er gleich nach Herrn Webers Abgang Max Gantmann angerufen und ihm von dem seltsamen Besuch erzählt. Max war ganz aufgeregt geworden, bestand auf einer möglichst wörtlichen Wiedergabe des Gesprächs und war begierig auf die Telefonnummer von Gabor Takacs.
Am nächsten Tag rief er Jonas auf dem Handy an, und als dieser den Anruf ablehnte, weil er in einer Sitzung war, bearbeitete er die Assistentin von Rebstyn so lange, bis sie ihn verband.
„Takacs weigert sich, mit mir zu sprechen, Jonas. Er will nur mit dir reden. Dein Herr Weber muss ihm das eingeschärft haben. Du seist der Direktbetroffene, weil du die Noten mit der gleichen Seriennummer entdeckt hättest.“
„Max, ich bin mitten in einer Location-Sitzung. Für mich ist die Banknotensache gestorben.“
„Dann du für mich aber auch“, hatte Max gesagt und aufgelegt.
Nach einer Trotzphase von knapp zehn Minuten hatte Jonas zurückgerufen und sich bereit erklärt, Takacs zu treffen.
Der Mann, der ihm die Tür zu dem Reihenhaus aus den achtziger Jahren öffnete, trug einen zu großen Schlafanzug, aus dessen Halsausschnitt ein kahler Kopf mit tiefliegenden, dunkelgeränderten Augen ragte. „Entschuldigung, ich habe Krebs“, waren seine ersten Worte. Er führte ihn in einen Raum, der früher wohl als Wohnzimmer gedient hatte. Jetzt war die Sitzgruppe zusammengerückt worden, damit das hohe Spitalbett Platz fand, das an dem großen Fenster stand. Es ging auf einen schneebedeckten Hintergarten hinaus, der seinerseits an den Hintergarten eines anderen Reihenhauses grenzte.
Zwei große Flachbildschirme waren eingeschaltet. Auf jedem lief eine andere deutsche Nachmittagsshow. Der Raum roch nach Krankenhaus. Auf einem rollbaren Betttisch standen die Überreste einer Mahlzeit in einem unterteilten Teller mit durchsichtigem Deckel.
Takacs kletterte ins Bett und stellte die Lautstärke der beiden Fernseher leiser. „Entschuldigen Sie, ich schau das immer. Es tut mir gut, wenn ich sehe, dass ich nicht der Einzige bin, dem es dreckig geht. Krank und Frau weg.“
Im nächsten Jahr hätte er das zwanzigste Firmenjubiläum bei der Coromag feiern können. Aber dann war er einer Restrukturierung zum Opfer gefallen.
„Nicht, weil es der Firma schlecht ging, einer Firma, die Geld druckt, kann es ja nicht schlecht gehen, oder? Sondern weil gewisse Abläufe dank der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung“– es klang, als zitiere er aus einer Pressemitteilung – „neu überdacht wurden.“Er machte eine Kunstpause. „Wissen Sie, was das heißt?
(Fortsetzung folgt)