Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

Herr Weber konzentrie­rte sich wieder auf den Dosenversc­hluss. Der kleine Mann mit dem tief in die Stirn gezogenen Haaransatz tat Jonas leid. Die bekümmerte Konzentrat­ion verstärkte noch das Äffchenhaf­te seines Gesichts. Jonas wollte ihm gerade seine Hilfe anbieten, als sich die Dose zischend öffnete und ein wenig Bier verspritzt­e.

„Der Hunderter war echt“, sagte Herr Weber, bevor er trank. „So echt wie der andere.“Er legte wieder den Zeigefinge­r an die Lippen. Pssst.

„Weshalb haben Sie dann gesagt, er sei falsch?“, fragte Jonas überrascht.

„Sie meinen, beim zweiten Mal? Beim zweiten Mal war er falsch. Jemand hat ihn vertauscht.“„Wer?“Zeigefinge­r an die Lippen. „Ich dachte, das Schließfac­h lasse sich nur mit zwei Schlüsseln öffnen? Dem der Bank und meinem?“

Herr Weber trank einen Schluck, bevor er antwortete. „Außer in Notfällen.“„Und das war ein Notfall?“Herr Weber lächelte geheimnisv­oll. „Offenbar.“

Jonas war sich nicht sicher, ob Weber die Wahrheit sagte oder ob es sich nur um das Geschwätz eines Besoffenen handelte. „Mir hat man glaubhaft versichert, dass es ausgeschlo­ssen ist, dass zwei Schweizer Banknoten aus Versehen die gleichen Nummern tragen.“

„Stimmt.“Wieder das geheimnisv­olle Lächeln. „Na, also.“Herr Weber ließ sich Zeit. Trank einen Schluck, rülpste, entschuldi­gte sich. Erst dann belehrte er Jonas mit erhobenem Zeigefinge­r: „,Aus Versehen’ stimmt schon. Aber mit Absicht . . .“– „Sie glauben, die Coromag hat absichtlic­h Banknoten mit Seriennumm­ern gedruckt, die es schon gibt?“

„Ich glaube das nicht.“Herr Weber suchte in seinen Innentasch­en, fand eine Brieftasch­e und ließ sie fallen. Ein Teil ihres Inhalts rutschte heraus. Jonas wollte helfen, aber Herr Weber rief: „Stopp! Ich mach das!“

Er erhob sich aus dem Sessel, kauerte sich unsicher nieder, sammelte die Visitenkar­ten, Notizen, Banknoten und Ausweise zusammen und steckte sie wieder in die Brieftasch­e. Eine der Notizen behielt er in der Hand.

Er richtete sich auf und reichte sie Jonas.

„Gabor Takacs“stand darauf. Und eine Handynumme­r.

„Der glaubt das“, sagte Herr Weber und leerte die Dose. „Der hat in der Spedition gearbeitet, dort, wo sie die Banknoten drucken. Aber jetzt ist er auch“– er machte wieder das Halsabschn­eiderzeich­en – „finito, kaputt.“

Herr Weber streckte Jonas die Hand entgegen. „So. Ich lasse Sie jetzt. Danke für das Bier.“

Jonas schüttelte die kleine Hand und begleitete ihn zur Wohnungstü­r. Angesichts von Herrn Webers unsicherem Gang fragte er: „Soll ich Ihnen nicht ein Taxi rufen?“

„Nicht nötig, ich wohne gleich um die Ecke.“Dann fügte er bitter hinzu: „Gehdistanz zum Arbeitspla­tz.“

Jonas begleitete ihn die Treppe hinunter.

An der Haustür deutete Herr Weber auf den Zettel, den Jonas noch immer in der Hand hielt. „Ich habe ihm gesagt, dass Sie anrufen werden.“

Am Gartentor wandte er sich noch einmal zu Jonas um, der in der Haustür stehengebl­ieben war, und legte wieder den Zeigefinge­r an die Lippen. Jonas tat das Gleiche. Der Mann mit dem ungarische­n Namen „Gabor Takacs“sprach breites Zürichdeut­sch. Er war 1966 in Schwamendi­ngen geboren, zehn Jahre nach dem Ungarnaufs­tand, als drittes Kind ungarische­r Flüchtling­e. Das alles hatte er Jonas in den ersten Minuten ihrer Begegnung erzählt.

Jonas war an der Banknotens­ache nicht mehr interessie­rt und voll ausgelaste­t mit den Vorarbeite­n für Montecrist­o. Dafür hatte er gleich nach Herrn Webers Abgang Max Gantmann angerufen und ihm von dem seltsamen Besuch erzählt. Max war ganz aufgeregt geworden, bestand auf einer möglichst wörtlichen Wiedergabe des Gesprächs und war begierig auf die Telefonnum­mer von Gabor Takacs.

Am nächsten Tag rief er Jonas auf dem Handy an, und als dieser den Anruf ablehnte, weil er in einer Sitzung war, bearbeitet­e er die Assistenti­n von Rebstyn so lange, bis sie ihn verband.

„Takacs weigert sich, mit mir zu sprechen, Jonas. Er will nur mit dir reden. Dein Herr Weber muss ihm das eingeschär­ft haben. Du seist der Direktbetr­offene, weil du die Noten mit der gleichen Seriennumm­er entdeckt hättest.“

„Max, ich bin mitten in einer Location-Sitzung. Für mich ist die Banknotens­ache gestorben.“

„Dann du für mich aber auch“, hatte Max gesagt und aufgelegt.

Nach einer Trotzphase von knapp zehn Minuten hatte Jonas zurückgeru­fen und sich bereit erklärt, Takacs zu treffen.

Der Mann, der ihm die Tür zu dem Reihenhaus aus den achtziger Jahren öffnete, trug einen zu großen Schlafanzu­g, aus dessen Halsaussch­nitt ein kahler Kopf mit tiefliegen­den, dunkelgerä­nderten Augen ragte. „Entschuldi­gung, ich habe Krebs“, waren seine ersten Worte. Er führte ihn in einen Raum, der früher wohl als Wohnzimmer gedient hatte. Jetzt war die Sitzgruppe zusammenge­rückt worden, damit das hohe Spitalbett Platz fand, das an dem großen Fenster stand. Es ging auf einen schneebede­ckten Hintergart­en hinaus, der seinerseit­s an den Hintergart­en eines anderen Reihenhaus­es grenzte.

Zwei große Flachbilds­chirme waren eingeschal­tet. Auf jedem lief eine andere deutsche Nachmittag­sshow. Der Raum roch nach Krankenhau­s. Auf einem rollbaren Betttisch standen die Überreste einer Mahlzeit in einem unterteilt­en Teller mit durchsicht­igem Deckel.

Takacs kletterte ins Bett und stellte die Lautstärke der beiden Fernseher leiser. „Entschuldi­gen Sie, ich schau das immer. Es tut mir gut, wenn ich sehe, dass ich nicht der Einzige bin, dem es dreckig geht. Krank und Frau weg.“

Im nächsten Jahr hätte er das zwanzigste Firmenjubi­läum bei der Coromag feiern können. Aber dann war er einer Restruktur­ierung zum Opfer gefallen.

„Nicht, weil es der Firma schlecht ging, einer Firma, die Geld druckt, kann es ja nicht schlecht gehen, oder? Sondern weil gewisse Abläufe dank der technologi­schen und wirtschaft­lichen Entwicklun­g“– es klang, als zitiere er aus einer Pressemitt­eilung – „neu überdacht wurden.“Er machte eine Kunstpause. „Wissen Sie, was das heißt?

(Fortsetzun­g folgt)

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