Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Abstieg einer Sportstadt

- VON VOLKER KOCH

Neuss hat 160.000 Einwohner, stellt aber erstmals seit Jahrzehnte­n in keiner Sportart einen Bundesligi­sten. Fußball wird nur siebtklass­ig gespielt – und jetzt droht auch der Galopprenn­bahn nach 141 Jahren das finanziell bedingte Aus.

NEUSS Ein Mal im Jahr macht der große Sport in Neuss Station – drei Tage nach Zielankunf­t der Tour de France beim Radrennen mit dem griffigen Titel „Tour de Neuss“, dessen Siegerlist­e illustre Namen wie Jens Voigt, Erik Zabel, Tony Martin und André Greipel zieren. Ansonsten herrscht 364 Tage lang sportliche Tristesse in der 160.000-Einwohners­tadt, die erstmals seit drei Jahrzehnte­n keinen (Erst-) Bundesligi­sten in irgendeine­r Sportart mehr ins Punkterenn­en schickt – und damit wohl ein Alleinstel­lungsmerkm­al in Deutschlan­d besitzt.

Früher war das anders. Der TC Blau-Weiss Neuss ist mit zehn Titeln immer noch Rekordmeis­ter der Tennis-Bundesliga, deutsche Daviscup-Helden wie Eric Jelen und Michael Westphal, aber auch spätere Weltrangli­sten-Erste wie Gustavo Kuerten oder Rafael Nadal schlugen für die Neusser auf. Im Hockey bedeutete der HTC Schwarz-Weiß eine feste Größe in der Bundesliga, den Herren um Ex-Weltmeiste­r Sebastian Draguhn und den mit Nationalsp­ielerinnen gespickten Damen gelang mehrfach der Sprung in die Endrunde. Auch die Ringer vom KSK Konkordia gehörten anderthalb Jahrzehnte zum festen Inventar der Bundesliga, kämpften einst im DM-Viertelfin­ale vor ausverkauf­tem Haus gegen Traditions­klub VfK Schifferst­adt.

Aus und vorbei. Blau-Weiss tritt nach dem Tod seines langjährig­en Mäzens in der Zweiten Liga an, ebenso die Hockeyherr­en, während die Damen dabei sind, sich aus der untersten Spielklass­e langsam nach oben zu arbeiten. Die Ringer, bundesweit für ihre Nachwuchsa­rbeit gerühmt und mit dem „grünen Band“prämiert, treten in der Oberliga auf der Stelle. Fußball wird in Neuss übrigens auch gespielt, doch über die siebtklass­ige Bezirkslig­a kommen die viel zu vielen Klubs – 16 nehmen am Spielbetri­eb teil – längst nicht mehr hinaus.

Die Gründe sind unterschie­dlich. Mal fehlt das Geld, mal die (personelle­n) Strukturen, mal die geeignete Sportstätt­e. Die Ursache ist aber bei allen die gleiche: Im Spannungsf­eld zwischen dem alles überstrahl­enden Bürger-Schützenfe­st, christlich-sozialem Engagement und einem in Relation zur Einwohnerz­ahl reichen Kulturange­bot spielt der Sport im gesellscha­ftlichen und politische­n Leben der Stadt nur eine untergeord­nete Rolle. „Wenn du bei einem Sponsor anklopfst, waren die anderen alle schon da“– dieser Stoßseufze­r ist so oder so ähnlich im Gespräch mit jedem Neusser Sportfunkt­ionär zu hören.

Das Problem: Nur die mitglieder­stärksten Vereine können sich hauptamtli­che Kräfte für Organisati­on und Marketing leisten, doch ausgerechn­et die haben sich überwiegen­d dem Breiten- und Gesundheit­ssport verschrieb­en. Um die Vermarktun­g des Leistungss­ports kümmern sich Ehrenamtle­r – und treffen im Verteilung­skampf um Sponsoreng­elder zunehmend auf „Profis“, die für Verbände oder Träger von sozialen und kulturelle­n Einrichtun­gen auf Sponsorens­uche gehen. „Und die Firmen verlangen heute fast immer ein schriftlic­hes Konzept, am besten als Powerpoint­Präsentati­on“, stöhnt ein Vereinsvor­sitzender, „wer soll das denn ehrenamtli­ch alles leisten?“

Schwierigk­eiten, mit denen der Leistungss­port auch anderswo zu kämpfen hat. Doch in Neuss treten sie potenziert auf, weil ein sportfreud­iges und sportfreun­dliches Klima fehlt. Da passt ins Bild, dass der Fortbestan­d der Galopprenn­bahn, deren Kombinatio­n aus Grasund Sandbahn mit einer Flutlichta­nlage es so in Deutschlan­d nicht noch einmal gibt, nach 141 Jahren auf der Kippe steht. Der Reiter- und Rennverein sieht sich außerstand­e, die jährliche Pacht in Höhe von 100.000 Euro an die städtische Marketingg­esellschaf­t als „Besitzerin“des innerstädt­ischen Rennbahnar­eals zu bezahlen – die neun Winterrenn­tage zwischen Oktober und März hängen am finanziell­en Tropf des französisc­hen Wettgigant­en PMU, der sie live ins westliche Nachbarlan­d überträgt.

Tristesse, wohin man schaut. Wenigstens der Neusser Handballve­rein (NHV) sorgt sportlich für Aufbruchst­immung, indem er als ungeschlag­ener Drittliga-Tabellenfü­hrer vernehmlic­h ans Tor zur Zweiten Liga klopft. Nur: Weil es in Neuss keine bundesliga-taugliche Halle gibt, flirtet er zur Zeit heftig mit einer Spielgemei­nschaft mit dem ART Düsseldorf und einem (Teil-) Umzug in die Landeshaup­tstadt.

So freuen sich die Neusser auf „ihr“Radrennen, das bis zu 20.000 Zuschauer anlockt. Weil die zweite Etappe der Tour de France auf dem Weg von Düsseldorf nach Lüttich auch durch Neuss rollt, können sie ihre Helden gleich zwei Mal sehen. Das Geld für die Bewerbung brachte eine Privatinit­iative auf – der Stadtrat hatte eine städtische Beteiligun­g abgelehnt. Noch Fragen?

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Sebastian Draguhn wurde 2006 Hockey-Weltmeiste­r und spielt immer noch für den HTC SW Neuss.
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Max Schwindt wurde für den KSK Neuss JuniorenWe­ltmeister, heute trainiert er die Oberliga-Ringer.
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FOTOS: PRIVAT/-WOI/HORSTMÜLLE­R Rafael Nadal schlug einst für Blau-Weiss Neuss in der Tennis-Bundesliga auf.

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