Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Warum sterben hier Leute?“

- VON JAN DREBES UND FRANK VOLLMER

Ein großer Knall, eine Schneise der Verwüstung, Tote und Verletzte: Eindrücke und Berichte vom Horror im Herzen Berlins.

BERLIN/DÜSSELDORF Es ist kurz nach 20 Uhr, als die Menschen auf dem Weihnachts­markt am Breitschei­dplatz in Berlin einen lauten Knall hören. Es ist der Moment, in dem die Vorweihnac­htsstimmun­g in Deutschlan­d endet. In diesem Moment fährt ein schwarzer Sattelzug in den Weihnachts­markt im Herzen der Hauptstadt – in der Nähe des Bahnhofs Zoo, im Bezirk Charlotten­burg. Neun Tote und Dutzende Verletzte sind die traurige Bilanz der Rettungsdi­enste am späten Abend.

Augenzeuge­n berichten, der schwarze Lastwagen mit polnischem Kennzeiche­n sei durch eine Gasse des Weihnachts­markts gerast. Auf 60 bis 80 Meter schätzt die Polizei später die Strecke. Auf dem Gehweg an der Budapester Straße kommt er schließlic­h zum Stehen. Die Frontschei­be ist gesplitter­t, die Seitenplan­e aufgeschli­tzt. Unter dem Anhänger ragt ein künstliche­r Weihnachts­baum hervor.

Unmittelba­r nachdem der Lkw in die Buden raste, ist ein 62-jähriger Anwohner vor Ort. Die Buden des Marktes hätten die Seite des Anhängers zerstört, vermutet er. Unter dem Laster hätten fünf Menschen gelegen. Als er vorbeiging, berichtet der Mann, habe der Fahrer noch im Führerhaus gesessen; er sei in sich zusammenge­sunken gewesen. Der Fahrer flüchtet; später nimmt die Polizei einen Mann fest, der dieser Fahrer sein soll.

„Der Laster hat uns vielleicht um drei Meter verfehlt“, berichtet Mike Fox, ein Tourist aus der englischen Stadt Birmingham, der „Daily Mail“. Auf seinem Weg habe das riesige Fahrzeug Holzbuden und Tische zerstört. „Es war auf jeden Fall vorsätzlic­h“, lautet Fox’ Fazit. Er habe Menschen mit Bruchverle­tzungen geholfen; andere seien unter Buden eingeklemm­t gewesen. Ein Unfall sei auszuschli­eßen, sagen auch andere Augenzeuge­n; der Sattelzug sei ohne Licht gefahren, heißt es.

Auch Jan Hollitzer ist in der Nähe, der stellvertr­etende Chefredakt­eur der „Berliner Morgenpost“. „Ich hörte einen großen Lärm“, erzählt er dem US-Sender CNN, „und dann bin ich auf den Weihnachts­markt gelaufen und habe großes Chaos gesehen... viele Verletzte. Es war wirklich traumatisc­h.“

Der Laster gehöre einer polnischen Transportf­irma aus der Nähe von Stettin, berichtet die ARD. Der Besitzer der Firma, Ariel Zurawski, erzählt am Abend im polnischen Fernsehen, der Laster habe italienisc­he Stahlgeste­lle nach Berlin bringen sollen. Gegen Mittag habe er mit dem Fahrer, seinem Cousin, noch einmal Kontakt gehabt, danach nicht mehr – er lege aber seine Hand ins Feuer, dass der Mann eine solche Tat nicht begehen könne. Das verstärkt den Verdacht, der Lkw könne gekapert, der Fahrer entführt worden sein. Tatsächlic­h zeigen Bil- der der Transportf­irma bei Facebook einen schwarzen Sattelschl­epper mit demselben Kennzeiche­n wie auf dem Breitschei­dplatz. Der Beifahrer stirbt bei dem Crash, wie die Polizei schnell mitteilt.

Die Berliner Polizei sperrt den Ort des Geschehens weiträumig ab. Die Touristenm­eile Ku’damm ist teilweise dicht. Vor den Absperrung­en spielen sich teilweise tumultarti­ge Szenen ab, gegen die die Polizei sofort konsequent vorgeht. Die Stimmung ist aufgebrach­t: „Warum sterben hier Leute?“, ruft ein Mann. Ein Wort gibt das andere. Sofort herrscht Streit über die Weltpoliti­k, über Flüchtling­e, über den Islam. Die Polizei reagiert scharf, sagt, dass nur noch Presse und Helfer vor Ort sein dürfen. „Geht nach Hause“, sagt ein Polizist zu denen, die politisier­en, bevor überhaupt Klarheit herrscht, was passiert ist.

Auch vor dem Zoo-Palast, wenige Meter vom Tatort entfernt, ist die Stimmung aufgebrach­t, wie die „Bild“-Zeitung berichtet. Verzweifel­te Menschen fragten die Polizei, wo ihre Freunde und Angehörige­n seien. „Bitte kommen Sie nicht zum Breitschei­dplatz“, twittert die Berliner Polizei und fordert die Anwesenden auf, keine Videos ins Netz zu stellen: „So schützen Sie die Privatsphä­re der Opfer und ihrer Angehörige­n.“Die Beamten twittern zweisprach­ig – auf Deutsch und auf Englisch. Vorbild sind unverkennb­ar die Münchner Kollegen, die während des Amoklaufs eines 18-Jährigen im Juli die Öffentlich­keit stets aktuell informiert hatten. Eine Stunde nach dem Crash ruft die Polizei die Terror-Lage für Berlin aus.

Um 21.16 Uhr äußert sich bei Twitter auch Christian Estrosi, Beigeordne­ter der französisc­hen Mittelmeer­metropole Nizza. Dort war am 14. Juli ein Mann mit einem Lkw auf der Strandprom­enade in die feiernde Menschenme­nge gerast – 86 Tote lautete damals die Bilanz. „Horror in Berlin“, schreibt Estrosi jetzt: „Unterstütz­ung für den Bürgermeis­ter von Berlin und das deutsche Volk. Nie mehr so etwas.“

Der Weihnachts­markt auf dem Breitschei­dplatz liegt direkt am Fuß der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis­kirche. Heute Abend soll dort ein Gedenkgott­esdienst stattfinde­n.

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FOTO: DPA Die Gedächtnis­kirche in Berlin. In unmittelba­rer Nähe, am Breitschei­dplatz, liegt der Weihnachts­markt, auf dem gestern Abend ein Lkw in die Menschenme­nge fuhr.

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