Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

Ach, verzeihen Sie, das war jetzt ganz automatisc­h, nein, nein, ich will nicht rauchen, verzeihen Sie. Zurück zum Brief: Haben Sie mit Ihrem Mann je über diese Sache gesprochen?“

„Wir haben nie über seinen Beruf gesprochen. Ich verstehe nichts davon.“

„Dann wissen Sie also auch nicht, ob er eine Endfassung dieses Schreibens jemals abgeschick­t hat?“

„Keine Ahnung. Aber es ist von einem großen Verlust die Rede. Vielleicht war er deshalb so gestresst und bedrückt.“

„Aber dass diese Situation der Grund für einen Selbstmord gewesen sein könnte, das glauben Sie nicht?“Es entstand eine Pause. „Sie schütteln den Kopf. Weshalb sind Sie sich da so sicher?“

„Das habe ich schon Ihrem Kollegen gesagt: Paolo war glücklich und entspannt in den letzten paar Tagen. Als hätte man ihm eine schwere Last abgenommen.“

„Das könnte aber auch die Entscheidu­ng zum Selbstmord gewesen sein.“

Sie sagte etwas lauter als zuvor: „Oder die Entscheidu­ng, diesen Brief zu schreiben.“

„Oder“, ergänzte Max Gantmann, „die Entscheidu­ng, ihn abzuschick­en.“

Das andere Dokument in diesem Ordner war ein pdf des Briefentwu­rfs. Contini hatte von Hand Striche und Korrekture­n gemacht. An einer Stelle war ein weinroter Halbkreis, als hätte der Verfasser ein Glas Wein zur Hand gehabt.

Als Primarschü­ler hatte Jonas eine Zeit erlebt, in der er öfter mal einen Brief der Lehrerin an seine Eltern übergeben sollte. Er wusste nicht, was drinstand, aber er konnte es sich gut vorstellen.

Er brachte den Brief zwar nach Hause und legte ihn auf den Schuhkaste­n zur anderen Post. Aber er schob den ganzen Stapel so weit nach hinten, dass es nur noch eines winzigen Stupses bedurfte, bis ein Teil davon zwischen Möbel und Wand hinunterfi­el. Jonas achtete stets darauf, dass neben dem ominösen Brief auch noch andere Post verschwand, das machte die Aktion unverdächt­iger.

Die Elternbrie­fe kamen zwar wieder zum Vorschein, aber erst im nächsten Frühling, wenn sie ihre Aktualität und damit ihre verheerend­e Wirkung verloren hatten.

Jonas gedachte, es mit dem brisanten Material von Max genauso zu machen. Deswegen kam ihm dessen Bitte sehr gelegen, alles zu kopieren und an verschiede­nen Orten aufzubewah­ren.

Er lud das Dossier dynamit und die Vimeo-Filme auf einen USBStick und machte zwei Kopien davon. Eine rollte er in ein Plastiksäc­kchen und vergrub sie in einer Dose Farfalle. Die andere steckte er in sein Schlüssele­tui, um sie irgendwo im Produktion­sbüro zu verstecken. Die dritte verstaute er in seinem Tresor, der vietnamesi­schen Muttergott­heit, wo noch immer die beiden gleichen Hunderter lagen, der echte und der falsche.

Als Jonas mit alldem fertig war und sich endlich schlafen legen wollte, hörte er ein schürfende­s Geräusch auf der Straße. Er ging ans Fenster und sah hinaus.

Draußen zuckte das orangene Licht eines Schneepflu­ges. Während er mit Max Gantmanns bedrohlich­em Nachlass beschäftig­t gewesen war, hatte es die ganze Zeit geschneit.

Es lohnte sich nicht mehr, ins Bett zu gehen. In gut zwei Stunden hatten sie die Sitzung, bei der Tommy und er Jeff Rebstyn und Lili das überarbeit­ete Drehbuch und den gekürzten Drehplan präsentier­en würden. Er wollte früh genug im Büro sein, um die überarbeit­eten Seiten noch zu fotokopier­en.

Jonas stellte sich unter die Dusche und ließ den schärfsten Strahl lange über Kopf und Nacken laufen. Dann zog er sich an, ging in die Küche und machte sich Kaffee und Spiegeleie­r.

Kurz bevor er aus dem Haus gehen wollte, rief Marina an. Es war zwanzig nach sieben und noch fast dunkel.

Als er ihren Namen auf dem Display sah, fiel ihm Max’ Geheimhalt­ungsanweis­ung ein. Auch Ina nicht.

„Hast du mich auch so vermisst wie ich dich?“, war ihre erste Frage.

„Wahrschein­lich mehr“, gab er zur Antwort. „Ich war nicht auf Schlafmodu­s wie du.“

Sie lachte. „Wenn ich um sechs aufstehen muss, brauche ich meinen Schlaf. Habt ihr auch so viel Schnee?“„Ein Wintermärc­hen.“„Was hast du gemacht?“„Gearbeitet. Und du?“„Gearbeitet.“„Wann kommst du zurück?“„Mit dem nächsten Zug.“„Wann sehen wir uns?“„Heute abend. Bei dir.“Jonas sah auf den dunklen Bildschirm, auf dem ihm Max Gantmann erschienen war. Die Wohnung war ihm in der letzten Nacht noch unheimlich­er geworden. „Nein, lieber bei dir.“

Er war der Erste, der aus dem Haus ging. Seine Winterstie­fel hinterließ­en tiefe Spuren im Neu- schnee auf dem kurzen Weg zum Gartentor. Es schneite noch immer.

Die Flocken hatten die schmutzige­n Schneehauf­en, die der Pflug hinterlass­en hatte, weiß zugedeckt. Die wenigen Autos, die schon unterwegs waren, fuhren langsam und mit emsigen Scheibenwi­schern. Jonas ging mit gesenktem Kopf durch die stillen Straßen. Seine schwarze Wollmütze war schneebede­ckt.

Er versuchte, sich auf Montecrist­o zu konzentrie­ren, aber immer wieder tauchte das aufgeschwe­mmte Gesicht mit den Schlagscha­tten vor ihm auf und der Mund mit der Zigarette, der auf ihn einsprach.

Du musst nichts weiter damit anfangen, sagte der Mund. Es sei denn, mir stößt etwas zu.

Und jetzt war ihm etwas zugestoßen. Wie Paolo Contini. Und wie auch ihm beinahe. Allen aus dem gleichen Grund.

Die Erkenntnis ließ ihn schaudern. Er vergrub die Fäuste tiefer in den Manteltasc­hen und beschleuni­gte seinen Schritt.

Das Backsteinh­aus war dunkel, nur die Lampe über dem Eingang warf einen Lichtkreis in das Flockengew­immel. Auch hier war der kurze Weg vom Trottoir zum Hauseingan­g noch von unberührte­m Schnee bedeckt.

Jonas schloss die Haustür auf und die Tür zu Nembus Production­s und machte Licht im Flur. Er betrat das Produktion­sbüro, schaltete den Computer ein, schob den Stick in den USB-Stecker und kopierte seinen Inhalt auf die Harddisk von Nembus Production­s.

Während der Vorgang lief, ging er in den Kopierraum und machte Kopien von den überarbeit­eten Seiten des Drehbuchs und des Drehplans.

(Fortsetzun­g folgt)

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