Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Montecristo
Ach, verzeihen Sie, das war jetzt ganz automatisch, nein, nein, ich will nicht rauchen, verzeihen Sie. Zurück zum Brief: Haben Sie mit Ihrem Mann je über diese Sache gesprochen?“
„Wir haben nie über seinen Beruf gesprochen. Ich verstehe nichts davon.“
„Dann wissen Sie also auch nicht, ob er eine Endfassung dieses Schreibens jemals abgeschickt hat?“
„Keine Ahnung. Aber es ist von einem großen Verlust die Rede. Vielleicht war er deshalb so gestresst und bedrückt.“
„Aber dass diese Situation der Grund für einen Selbstmord gewesen sein könnte, das glauben Sie nicht?“Es entstand eine Pause. „Sie schütteln den Kopf. Weshalb sind Sie sich da so sicher?“
„Das habe ich schon Ihrem Kollegen gesagt: Paolo war glücklich und entspannt in den letzten paar Tagen. Als hätte man ihm eine schwere Last abgenommen.“
„Das könnte aber auch die Entscheidung zum Selbstmord gewesen sein.“
Sie sagte etwas lauter als zuvor: „Oder die Entscheidung, diesen Brief zu schreiben.“
„Oder“, ergänzte Max Gantmann, „die Entscheidung, ihn abzuschicken.“
Das andere Dokument in diesem Ordner war ein pdf des Briefentwurfs. Contini hatte von Hand Striche und Korrekturen gemacht. An einer Stelle war ein weinroter Halbkreis, als hätte der Verfasser ein Glas Wein zur Hand gehabt.
Als Primarschüler hatte Jonas eine Zeit erlebt, in der er öfter mal einen Brief der Lehrerin an seine Eltern übergeben sollte. Er wusste nicht, was drinstand, aber er konnte es sich gut vorstellen.
Er brachte den Brief zwar nach Hause und legte ihn auf den Schuhkasten zur anderen Post. Aber er schob den ganzen Stapel so weit nach hinten, dass es nur noch eines winzigen Stupses bedurfte, bis ein Teil davon zwischen Möbel und Wand hinunterfiel. Jonas achtete stets darauf, dass neben dem ominösen Brief auch noch andere Post verschwand, das machte die Aktion unverdächtiger.
Die Elternbriefe kamen zwar wieder zum Vorschein, aber erst im nächsten Frühling, wenn sie ihre Aktualität und damit ihre verheerende Wirkung verloren hatten.
Jonas gedachte, es mit dem brisanten Material von Max genauso zu machen. Deswegen kam ihm dessen Bitte sehr gelegen, alles zu kopieren und an verschiedenen Orten aufzubewahren.
Er lud das Dossier dynamit und die Vimeo-Filme auf einen USBStick und machte zwei Kopien davon. Eine rollte er in ein Plastiksäckchen und vergrub sie in einer Dose Farfalle. Die andere steckte er in sein Schlüsseletui, um sie irgendwo im Produktionsbüro zu verstecken. Die dritte verstaute er in seinem Tresor, der vietnamesischen Muttergottheit, wo noch immer die beiden gleichen Hunderter lagen, der echte und der falsche.
Als Jonas mit alldem fertig war und sich endlich schlafen legen wollte, hörte er ein schürfendes Geräusch auf der Straße. Er ging ans Fenster und sah hinaus.
Draußen zuckte das orangene Licht eines Schneepfluges. Während er mit Max Gantmanns bedrohlichem Nachlass beschäftigt gewesen war, hatte es die ganze Zeit geschneit.
Es lohnte sich nicht mehr, ins Bett zu gehen. In gut zwei Stunden hatten sie die Sitzung, bei der Tommy und er Jeff Rebstyn und Lili das überarbeitete Drehbuch und den gekürzten Drehplan präsentieren würden. Er wollte früh genug im Büro sein, um die überarbeiteten Seiten noch zu fotokopieren.
Jonas stellte sich unter die Dusche und ließ den schärfsten Strahl lange über Kopf und Nacken laufen. Dann zog er sich an, ging in die Küche und machte sich Kaffee und Spiegeleier.
Kurz bevor er aus dem Haus gehen wollte, rief Marina an. Es war zwanzig nach sieben und noch fast dunkel.
Als er ihren Namen auf dem Display sah, fiel ihm Max’ Geheimhaltungsanweisung ein. Auch Ina nicht.
„Hast du mich auch so vermisst wie ich dich?“, war ihre erste Frage.
„Wahrscheinlich mehr“, gab er zur Antwort. „Ich war nicht auf Schlafmodus wie du.“
Sie lachte. „Wenn ich um sechs aufstehen muss, brauche ich meinen Schlaf. Habt ihr auch so viel Schnee?“„Ein Wintermärchen.“„Was hast du gemacht?“„Gearbeitet. Und du?“„Gearbeitet.“„Wann kommst du zurück?“„Mit dem nächsten Zug.“„Wann sehen wir uns?“„Heute abend. Bei dir.“Jonas sah auf den dunklen Bildschirm, auf dem ihm Max Gantmann erschienen war. Die Wohnung war ihm in der letzten Nacht noch unheimlicher geworden. „Nein, lieber bei dir.“
Er war der Erste, der aus dem Haus ging. Seine Winterstiefel hinterließen tiefe Spuren im Neu- schnee auf dem kurzen Weg zum Gartentor. Es schneite noch immer.
Die Flocken hatten die schmutzigen Schneehaufen, die der Pflug hinterlassen hatte, weiß zugedeckt. Die wenigen Autos, die schon unterwegs waren, fuhren langsam und mit emsigen Scheibenwischern. Jonas ging mit gesenktem Kopf durch die stillen Straßen. Seine schwarze Wollmütze war schneebedeckt.
Er versuchte, sich auf Montecristo zu konzentrieren, aber immer wieder tauchte das aufgeschwemmte Gesicht mit den Schlagschatten vor ihm auf und der Mund mit der Zigarette, der auf ihn einsprach.
Du musst nichts weiter damit anfangen, sagte der Mund. Es sei denn, mir stößt etwas zu.
Und jetzt war ihm etwas zugestoßen. Wie Paolo Contini. Und wie auch ihm beinahe. Allen aus dem gleichen Grund.
Die Erkenntnis ließ ihn schaudern. Er vergrub die Fäuste tiefer in den Manteltaschen und beschleunigte seinen Schritt.
Das Backsteinhaus war dunkel, nur die Lampe über dem Eingang warf einen Lichtkreis in das Flockengewimmel. Auch hier war der kurze Weg vom Trottoir zum Hauseingang noch von unberührtem Schnee bedeckt.
Jonas schloss die Haustür auf und die Tür zu Nembus Productions und machte Licht im Flur. Er betrat das Produktionsbüro, schaltete den Computer ein, schob den Stick in den USB-Stecker und kopierte seinen Inhalt auf die Harddisk von Nembus Productions.
Während der Vorgang lief, ging er in den Kopierraum und machte Kopien von den überarbeiteten Seiten des Drehbuchs und des Drehplans.
(Fortsetzung folgt)