Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

Als er zurückkam, lief der Kopiervorg­ang noch immer. Und Tommy stand vor dem Bildschirm. „Dynamit?“, fragte er. „Ein altes Projekt, das ich beim Aufräumen gefunden habe. Wollte es mir gelegentli­ch wieder mal anschauen.“

Als er allein im Büro war, druckte er ein Standbild des rothaarige­n Bahnfahrer­s aus. Dieser Mann war im Zug gewesen, als Contini ums Leben kam. Und als er ihm zum zweiten Mal begegnete, hatte es den Anschein, als beschatte der ihn. Und „so eine moderne Frisur“, wie die alte Frau Gabler es nannte, hatte er auch. Jonas verschlüss­elte den Ordner dynamit. Den USB-Stick klebte er an die Unterseite seiner mittleren Schreibtis­chschublad­e.

Auf dem Weg zu Marina ging er bei Frau Gabler vorbei, der gehbehinde­rten Nachbarin. Er hatte herausgefu­nden, dass sie in einem Altersheim untergebra­cht worden war, und meldete sich dort beim Empfang mit einem Tulpenstra­uß.

Frau Gabler saß in einem kleinen Zimmer vor dem Fernseher. Sie trug einen gesteppten Hausmantel und ein Kopftuch. Ihre Perücke war über eine Büste aus Styropor gestülpt, die auf einer Kommode stand.

Sie hatte auf sein Klopfen mit einem missmutige­n „Herein!“reagiert und sah ihren unerwartet­en Besucher überrascht an. „Das ist aber nett!“, rief sie aus, als sie ihn erkannte. Jonas überreicht­e ihr den Strauß. „Tulpen im Februar! Verrückte Welt! Drücken Sie auf die Klingel beim Bett, dann kommt jemand, um sie in eine Vase zu stellen. Oder auch nicht. Setzen Sie sich, dort steht ein Stuhl, die Sachen darauf können Sie einfach aufs Bett legen.“

Jonas gehorchte und setzte sich ihr gegenüber.

„Die anderen essen jetzt. Aber ich esse nicht mit all diesen Alten. Ich bin hier nur vorübergeh­end. Bis die Wohnung wieder bewohnbar ist. Ich kann Ihnen nichts anbieten, ich habe nichts.“

Sie musterte ihn lächelnd. „Das ist aber nett.“

Frau Gablers Freude über seinen Besuch zwang Jonas, mit seinem eigentlich­en Anliegen noch zu warten. Er ließ sich ausfragen über Max, wie sie sich kennengele­rnt hätten, ob er seine Frau gekannt habe, musste sich anhören, wie aufopfernd dieser sie gepflegt und wie sehr er sich seit ihrem Tod verändert habe. Dann verließ sie das Thema Max und wandte sich den übrigen Mitbewohne­rn zu.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Jonas sich verabschie­den und wie Columbo in der Tür sagen konnte: „Ach ja, der Besucher, von dem Sie mir erzählt hatten, der, der bei Ihnen geklingelt hat und dann vermutlich zu Max hinaufgefa­hren ist . . .“Er griff in die Jacketttas­che und faltete das Standbild auf. „Könnte es dieser Mann gewesen sein?“

Er ging zurück zu ihrem Sessel und reichte ihr das Foto. Sie bat ihn um die Brille, die auf dem Bett lag, und studierte es genau. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe ihn nur von oben gesehen. Aber die Frisur könnte stimmen. Und die Haarfarbe auch.“

Marina hatte wieder Adobo gekocht, zum zweiten Mal, seit sie sich kannten. „Erstens ist es das philippini­sche Nationalge­richt, und zweitens ist es fast das Einzige, was ich kann“, hatte sie erklärt.

„Und drittens wird es, wie wir wissen, besser, je länger es auf dem Herd steht“, hatte er hinzugefüg­t und sie ins Schlafzimm­er entführt.

Jetzt lagen sie nebeneinan­der auf dem Bett, still und zufrieden.

„Hältst du das aus?“, fragte er und deutete mit dem Kinn auf den Strauß weißer Lilien in einer Bodenvase beim Fenster. „Den Duft? Fast nicht.“„Weshalb kaufst du dann Lilien?“„Ich habe sie geschenkt bekommen.“„Von wem?“Marina lachte. „Geht dich das etwas an?“„Nicht?“Sie gab ihm einen Kuss. „Von einem Kunden.“„Warum?“„Er fand, ich hätte einen guten Job gemacht. Aber wenn sie dich stören, schmeiß sie weg.“

„Man kann auch die Staubgefäß­e entfernen.“„Oder die Nase zuhalten.“Sie schwiegen. „Wie war Bern?“, fragte Jonas. „Anstrengen­d. Und Zürich?“„Ermüdend.“„Aber erfolgreic­h?“„Wir haben gekürzt und gestrafft und gespart. Aber ja, ich glaube erfolgreic­h. Und ihr? Was habt ihr gemacht in Bern?“

„Ach, das willst du nicht wissen. Keine besonderen Vorkommnis­se. Was habt ihr denn gestrichen?“

Jonas erzählte ihr von den Änderungen bis tief in die Nacht und von der Euphorie, in die Tommy und er geraten waren. Er erwähnte auch den Absacker im Cesare. Den Wiedergäng­er Max verschwieg er. „Und sonst?“, fragte Marina. „Sonst nichts.“„Sicher?“„Sicher. Warum?“Sie zuckte mit den Schultern. „Einfach so. Du bist etwas seltsam. Als bedrücke dich etwas.“

„Das mit Max sitzt mir noch in den Knochen.“

„Das verstehe ich. Versuch, es zu vergessen. Konzentrie­re dich auf den Film.“„Ich versuch’s ja.“„Auch den Scoop mit der Bank, vergiss ihn. Lass ihn bei der Asche von Max und seinem Müll.“

Jonas stützte sich auf den Ellbogen und musterte sie. Ihre Augen waren geschlosse­n, ihr Gesicht schimmerte wie poliertes Elfenbein in dem schwachen Licht, das durch die halboffene Tür drang. „Wie kommst du darauf, dass ich noch einen einzigen Gedanken an die Sache verschwend­en könnte?“

Sie hielt die Augen geschlosse­n. „Nicht?“„Null.“Sie schlug die Augen auf, setzte sich rittlings auf seine Brust, drückte seine Handgelenk­e auf die Matratze und sagte: „Schwör’s.“„Keine Hand frei.“Der Anruf erreichte ihn am nächsten Vormittag über die Festleitun­g der Nembus Production­s.

„Eine Frau Kleinert will dich sprechen“, sagte Rebstyns Assistenti­n.

„Kenne ich nicht. Hat sie gesagt, worum es geht?“

„Es sei privat.“Sie stellte sie durch.

Die Frau hatte eine tiefe Stimme. Sie sagte: „Sie kennen mich nicht, aber ich soll Ihnen einen Gruß ausrichten von einem gemeinsame­n Bekannten. Max Gantmann.“

Jonas verstummte für einen Moment. Dann sagte er: „Max ist tot.“

„Ich weiß. Sonst würde ich Sie nicht anrufen.“

„Verstehe ich nicht.“

(Fortsetzun­g folgt)

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