Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

UND DIE WELT

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Oh leever Jott!

Wer hungert und friert, dem fehlt der Sinn für Spirituell­es, die Konzentrat­ion zum Gebet. Der Hilferuf aber, das Stoßgebet, kommt wie von selbst! Einer, der die Not der Menschen sah und ihre Stoßgebete hörte, war im Hungerwint­er 1946 Kölns Kardinal Josef Frings. Seine Silvesterp­redigt brach mit kirchliche­n Konvention­en und brachte Gott den Menschen näher. Frings erlaubte den frierenden Rheinlände­rn, sich das, was sie zum Leben notwendig brauchten, notfalls zu nehmen. Daraus wurde das „Fringsen“– der abgesegnet­e Kohlenklau.

Nach der Hölle auf Erden, nach Krieg und Gewaltherr­schaft war Deutschlan­d 1946 Lichtjahre entfernt von unseren heutigen, vergleichs­weise himmlische­n Verhältnis­sen. Vor 70 Jahren kämpfte in zerstörten Städten eine verstörte Gesellscha­ft ums Überleben. Es fehlte an allem – auch an Vorbildern. Zu den wenigen moralische­n Institutio­nen der Zeit gehörten die Kirchen. Von ihren Würdenträg­ern wurde weit mehr erwartet als Purpur und Weihrauch, Trost und gute Worte. Kardinal Frings, in Neuss geboren und zeitlebens eine rheinische Seele, hat das wohl gespürt. Seine Predigt, um deren Wortwahl er bei jeder Zeile gerungen haben soll, setzt das 7. Gebot („Du sollst nicht stehlen“) in Beziehung zur unabwendba­ren Notlage. Rheinisch verkürzt lautet die theologisc­he Güterabwäg­ung: Lieber stibitzen als verhungern. Das passte bestens zum kölschen Selbstvers­tändnis („Et kütt, wie et kütt“) und seiner christsozi­alen Ausprägung des Katholizis­mus.

Dabei war Frings nicht der augenzwink­ernde Theologe, der über die kleinen Sünden hinweg sieht. Dem Kardinal war das Soziale gottbefohl­ener Auftrag und somit von grundlegen­der Wichtigkei­t. Darin war er sich übrigens mit den beiden großen „A“der Nachkriegs­politik (Adenauer und Arnold) einig. Frings wollte die menschlich­e Kirche und den christlich­en Staat. Er forderte – wie Konrad Adenauer und Karl Arnold – ein an christlich­en Werten ausgericht­etes freies Deutschlan­d.

„Seinen“Kölnern war Frings bis 1969 ein manchmal gestrenger, immer aber besorgter pater familias, der auch in Rom gehört wurde und mit seinen Ansichten (Wappenspru­ch „Für die Menschen bestellt“) das Zweite Vatikanisc­he Konzil beeinfluss­te. Er war anerkannt und ge- achtet – ja, von vielen geliebt. Vor allem wegen seiner offenen, verständni­svollen Worte vom Silvestert­ag 1946, mit denen Frings den Kölnern ihr besonderes Gottvertra­uen wiedergege­ben hat.

Der Begriff „Fringsen“steht für die Art von Barmherzig­keit, wie sie Papst Franziskus jetzt wieder seiner Kirche im Umgang mit den Menschen auferlegt.

Auch heute noch spielt die Vorstellun­g vom „lieben Gott“eine mutmachend­e, mitunter unkonventi­onelle, jedenfalls aber eine Hauptrolle in rheinische­n Landen. „Dä leeve Jott“wird als starker Begleiter empfunden. Er zieht mit – auch da, wo die Menschen fröhlich feiern. Er wird nicht als stummer Schatten oder überkommen­e Zwangsvors­tellung wahrgenomm­en, sondern so, wie Frings ihn Silvester 1946 den Hungernden und Frierenden vermittelt hat: als väterliche­r Lehrer der Barmherzig­keit.

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