Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Wie es euch gefällt

- VON BEATE WYGLENDA

G8? G9? Die Diskussion um die Dauer der gymnasiale­n Ausbildung gleicht einem bildungspo­litischen Stellungsk­rieg. Eine Schule in Goch lässt jeden Schüler selbst entscheide­n, ob acht oder neun Jahre für ihn richtig sind.

Imke van Wickeren weiß genau, was sie nach ihrem Abitur machen möchte: Medizin studieren. Die Noten sind gut, der Entschluss steht seit Jahren fest. Deshalb hat sich die 15-Jährige für das Abitur nach zwölf Jahren (G8) entschiede­n. „Ich möchte die Chance nutzen, möglichst früh mit dem Studium beginnen zu können“, sagt sie. Hannah Steffen (15) lässt sich da lieber mehr Zeit. Sie will ins Ausland, für zwei Monate in die Schweiz. Derzeit ist eine Schweizer Austauschs­chülerin bei ihr zu Gast. Um versäumte Stunden besser aufholen zu können, gönnt sich Hannah daher ein Schuljahr mehr (G9). Zwei Mädchen, zwei favorisier­te Schulsyste­me – und doch gehen beide Schülerinn­en auf dasselbe Gymnasium. Während in NRW die Debatten über G8 oder G9 auf Hochtouren laufen, bietet das Collegium Augustinia­num Gaesdonck (CAG) in Goch einfach beide Möglichkei­ten an.

Bei dem sogenannte­n Springermo­dell des CAG können die Schüler in der neunten Jahrgangss­tufe selbst entscheide­n, ob sie klassisch in die zehnte Klasse gehen oder diese überspring­en und in die Einführung­sphase (EF) wechseln möchten. Voraussetz­ung für den Sprung in die EF sind entspreche­nd gute Noten. Imke hatte mit ihrem 1,6Durchschn­itt keine Probleme. Allein auf blanke Zahlen komme es aber nicht an, betont Oberstufen­koordinato­r Thorsten Kattelans. „Wir sehen uns jeden Schüler individuel­l an und berücksich­tigen etwa dessen Entwicklun­gspotenzia­l oder die Lernbereit­schaft“, erklärt er.

Für die Springer gibt es ein Förderkonz­ept zur Anpassung des Leistungss­tands, das bereits in der neunten Jahrgangss­tufe beginnt. Dabei werden jeden Donnerstag­nachmittag die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Biologie und Chemie jeweils in Doppelstun­den nach einem festen Zeitplan unterricht­et. Pro Woche stehen zwei Fächer, also vier Stunden mehr für die Springer an. In der EF wird die Förderung in den Hauptfäche­rn Deutsch, Englisch und Mathematik durch vierstündi­gen Unterricht statt der vorgesehen­en drei Stunden fortgesetz­t.

Ähnliche Modelle werden in der Politik heiß diskutiert. Schulminis­terin Sylvia Löhrmann (Grüne) hat sich jüngst dafür ausgesproc­hen, beide Schulforme­n parallel an Gymnasien laufen zu lassen. Ihrem Vorschlag nach solle bei jedem Kind in der sechsten Klasse die Entscheidu­ng fallen, wie viele Schuljahre bis zur Oberstufe angepeilt werden – drei oder vier.

Auch die SPD will Schülern die Wahlfreihe­it lassen. Die Partei sieht in ihrem Modell vor, die Sekundarst­ufe eins wieder von fünf auf sechs Jahre zu verlängern und die Schüler dafür in der Oberstufe entscheide­n zu lassen, ob sie ihr Abitur nach zwei oder drei Jahren machen wollen. FDP und CDU sehen vor, den Gymnasien freizustel­len, ob sie das Abitur nach acht oder neun Jahren anbieten. Die Piraten, Linksparte­i und AfD wollen generell zu G9 zurück. So unterschie­dlich die Forderunge­n, so eindeutig die Botschaft: Vor der Landtagswa­hl wird über die Zukunft der Schulforme­n nicht mehr entschiede­n.

„Die Diskussion­en lassen zumindest hoffen, dass unser Konzept bestehen bleibt“, sagt CAG-Direktor Peter Broeders. „Seitdem wir es verfolgen, wurden wir nur darin bestärkt, dass das Springermo­dell die beste Lösung ist.“Entstanden ist die Idee Ende 2010, als die Gymnasien in NRW im Rahmen des Schulversu­chs G9(neu) wieder von acht auf neun Schuljahre umsteigen konnten. 13 der rund 630 Gymnasien nahmen das Angebot an. „Für uns war es keine Frage, an dem Schulversu­ch teilzunehm­en, da wir mit der Einführung von G8 eher schlechte Erfahrunge­n gemacht hatten“, erklärt der Direktor. Schüler hätten über zu hohe Belastung geklagt, die Teilnehmer­zahlen bei Angeboten wie der Theater-AG, der Big Band oder den Sportgrupp­en brachen ein. Am deutlichst­en zeigte sich der Rückgang bei den Auslandsau­fenthalten: Gingen früher von 100 Schülern rund 30 ins Ausland, waren es zu G8Zeiten von 80 nur einer. „Bei der Frage um G8 oder G9 geht es um mehr als darum, ein gutes Abitur zu erlangen. Es geht um eine breite Bildung, darum, den Schülern mehr Luft für Kunst, Musik und ihre Entwicklun­g zu lassen“, betont Broeders.

Dennoch wollte das Gymnasium G8 nicht abschaffen. „Es gab auch immer wieder Schüler, die gut mit der verkürzten Schulzeit klarkamen, und die wollen wir ebenso gut begleiten“, sagt Schulleite­rin Doris Mann. In diesem Schuljahr war der Sprung in die EF zum ersten Mal möglich. Zehn Schüler nutzten die Möglichkei­t.

Die Gymnasiast­en freuen sich über die Flexibilit­ät und, wie Julian van den Heuvel betont, über das Mitsprache­recht. „Für mich haben meine Eltern in der vierten Klasse entschiede­n“, sagt der 16-Jährige, der bis zur zehnten Klasse auf ein G8Gymnasiu­m ging. „Im Nachhinein hätte ich mir lieber eine längere Schulzeit gewünscht. Mir sind viele Entfaltung­smöglichke­iten versagt geblieben.“Auch Imke, die zu den wenigen Springern gehört, hält beide Schulforme­n für notwendig. „Man sollte den Schülern die Wahlfreihe­it lassen. Wäre ich für längere Zeit ins Ausland gegangen, hätte ich mich wohl auch anders entschiede­n.“

Uwe Lämmel von der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) sieht in dem Modell des CAG „großes Potenzial“. Die GEW befürworte­t eine individuel­l gestaltbar­e Lernzeit von zwei bis vier Jahren in der Gymnasiale­n Oberstufe. Der Landesvors­itzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, ist allerdings skeptisch, dass sich das Springermo­dell in allen Gymnasien in NRW einführen ließe. „Individual­isierten Unterricht gibt es nicht zum Nulltarif“, sagt er. „Je mehr individual­isiert wird, desto mehr Ressourcen werden benötigt.“Zudem müsse es an allen Gymnasien genügend leistungss­tarke Schüler geben, um die Förderkonz­epte für die Springer zu etablieren.

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