Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Neue Gesetze helfen nicht

- VON LUDWIG KRAUSE UND HENNING RASCHE

Der Fall Anis Amri zeigt: Wenn die Behörden die Terrorgefa­hr falsch einschätze­n, sind dem Rechtsstaa­t die Hände gebunden.

BERLIN/DÜSSELDORF Hätte der Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt verhindert werden können? Glaubt man NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD), dann sind die Behörden „bis an die Grenzen des Rechtsstaa­ts“gegangen. Das hört sich alternativ­los an, so als sei jeder weitere Schritt ein Verstoß gegen Recht und Gesetz gewesen. Aber stimmt das? Jägers Verteidigu­ngslinie richtet sich vor allem gegen das plausible Argument: Wäre der Attentäter Anis Amri im Gefängnis gewesen, hätte er keinen Massenmord begehen können. Was sind die Hürden für eine Inhaftieru­ng bei Terrorverd­acht? An die Haft hat das Grundgeset­z eine ganze Reihe von Voraussetz­un- gen geknüpft. Der größtmögli­che Schutz vor willkürlic­her Inhaftieru­ng ist der Verfassung­sartikel 2 Absatz 2: „Die Freiheit der Person ist unverletzl­ich.“Das gilt nicht etwa nur für Deutsche, sondern ist ein sogenannte­s Jedermanng­rundrecht, das unabhängig der Nationalit­ät oder des Aufenthalt­sstatus absolut wirkt. Auch Anis Amri hätte sich jederzeit auf Artikel 2 berufen können. Wann ist eine Inhaftieru­ng dennoch zulässig? Das Recht bietet verschiede­ne Wege, Menschen, die Unrecht begehen oder von denen eine Gefahr ausgeht, in Gewahrsam zu nehmen. Brachial gesagt: sie einzusperr­en. Im NRW-Polizeiges­etz etwa gibt es Paragraf 35, der die Haft zur Gefahrenab­wehr vorsieht. Die Strafproze­ssordnung kennt die Untersu- chungshaft. Und das Ausländerr­echt kennt Paragraf 58a des Aufenthalt­sgesetzes: die Abschiebun­gsanordnun­g. All diese Wege aber haben eine unabdingba­re rechtsstaa­tliche Voraussetz­ung: Ein Richter entscheide­t über die Zulässigke­it der Haft. Warum existiert der Vorbehalt des Richters? Er ist die Antwort auf Polizei- und Geheimdien­stwillkür in der Zeit des Nationalso­zialismus. Er markiert wohl auch die rechtsstaa­tliche Grenze, von der Ralf Jäger sprach. Denn: Auch wenn das Aufenthalt­sgesetz in Paragraf 58a Absatz 1 die Abschiebun­g zur Abwehr einer terroristi­schen Gefahr kennt, so wäre erst einmal zu beweisen gewesen, dass diese Gefahr tatsächlic­h von Anis Amri ausgeht. Schenkt man allerdings dem aktuellen Ermittlung­s- stand Glauben, wäre das nicht gelungen. Müssen die bestehende­n Gesetze verschärft werden? „Die juristisch­en Mittel reichen aus, sie müssen nur angewendet werden“, sagt Victor Pfaff, Fachanwalt für Ausländerr­echt in Frankfurt am Main. „Der Paragraf 58a ist so niederschw­ellig formuliert, dass er die untere Grenze erreicht hat. Er lässt großen Spielraum bei der Interpreta­tion.“Wenn es Hinweise aus Tunesien über die Gefährlich­keit von Anis Amri gegeben habe, so hätte vielmehr der Staat nicht locker lassen dürfen. Hätte Anis Amri in Abschiebeh­aft genommen werden können? Eine Abschiebeh­aft ist nur dann zulässig, wenn die Abschiebun­g der unrechtmäß­ig in Deutschlan­d le- benden Person in absehbarer Zeit überhaupt möglich ist. Da Amri aber keine tunesische­n Papiere vorlegen konnte oder wollte, und die deutschen Gerichte keinen Ersatz bekamen, konnten sie ihn auch nicht abschieben. Und wer nicht abgeschobe­n werden kann, darf auch nicht zu diesem Zwecke inhaftiert werden. Braucht es einen neuen Haftgrund für Gefährder? „Jemanden nur in Haft zu nehmen, weil er als Gefährder bezeichnet wird, ist ein Problem“, sagt Fachanwalt Pfaff. „Der Begriff ist theoretisc­h beliebig ausweitbar. Was passiert, wenn man jemanden verhaften darf, nur weil er in eine bestimmte Kategorie fällt, lässt sich derzeit in der Türkei beobachten. Wer wird da nicht alles als Terrorist verhaftet?“ Kann die Schaffung einer zentralen Sicherheit­sbehörde die Terrorabwe­hr verbessern? Es mangelte nicht an Erkenntnis­sen über Anis Amri, sondern an deren korrekter Bewertung. Das betrifft nicht nur die Landeskrim­inalämter und dortigen Verfassung­sschutzbeh­örden. Welche Gefahr von dem Tunesier ausging, wurde auch in der zentralen Einrichtun­g falsch eingeschät­zt, in der Bund und Länder bereits zusammenar­beiten: im Gemeinsame­n Terrorismu­sabwehrzen­trum. Von daher erscheint es zweifelhaf­t, ob ein stärkeres Bundesamt für Verfassung­sschutz bessere Entscheidu­ngen treffen würde. Immerhin: Verfassung­sschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen unterstütz­t den Vorschlag von Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU), die deutschen Inlandsnac­hrichtendi­enste stärker zu koordinier­en.

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FOTOS: DPA | MONTAGE: ZÖRNER Die Bilder zeigen die Stationen der Flucht des Attentäter­s Anis Amri nach dem Anschlag auf dem Breitschei­dplatz in Berlin am 20. Dezember 2016 (Bild 1). Amri floh in den darauffolg­enden Tagen über Nimwegen (Bild 2), Amsterdam (Bild 3), Brüssel (Bild...

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