Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ohne Perspektiv­e im Maghreb

- VON MATTHIAS BEERMANN GRAFIK: RP

Hohe Arbeitslos­igkeit, verbreitet­e Armut – vor allem junge Nordafrika­ner kehren ihrer Heimat den Rücken und kommen nach Europa.

DÜSSELDORF Es war eine deutliche Mehrheit von 424 Bundestags­abgeordnet­en der großen Koalition, die im Mai 2016 die drei Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsl­ändern erklärte. Das Ziel: nordafrika­nische Asylbewerb­er schneller dorthin abschieben zu können. Über das Gesetz, dem noch eine Mehrheit im Bundesrat fehlt, wird seither erbittert gestritten. Und meist werden die drei Länder dabei über einen Kamm geschoren. In Wirklichke­it gibt es große Unterschie­de: Algerien ist eine Militärdik­tatur, die von einem todkranken Präsidente­n geführt wird. Marokko ist eine autoritäre Monarchie, die sich mit einer reformisti­schen Fassade tarnt. Nur Tunesien kann seit dem Sturz von Diktator Zine el Abidine Ben Ali 2011 als Demokratie gelten, wenn auch mit Einschränk­ungen.

Für alle drei Länder gilt: Weder Verfolgung aus politische­n Gründen noch Krieg treibt die Menschen nach Europa. Die meisten haben wirtschaft­liche Motive. Sie fliehen vor einer bedrückend­en Lage und der völligen Perspektiv­losigkeit, mit der sich vor allem junge Menschen konfrontie­rt sehen.

In Algerien verkörpert niemand besser als Abdelasis Bouteflika, der 79-jährige Präsident, den Zustand des Landes. Bouteflika ist ein Pflegefall, tritt kaum noch offiziell auf. Regelmäßig wird er in einem Pariser Militärkra­nkenhaus wochenlang behandelt. Aber in Algier gilt als ausgemacht, dass nur der sieche Greis das fragile Macht- und Interessen­geflecht aus Militärs und Funktionär­en der seit der Unabhängig­keit 1962 regierende­n Staatspart­ei FLN zusammenha­lten kann. Daher muss Bouteflika auch nach 17 Jahren an der Staatsspit­ze im Amt bleiben.

Algerien ist nach Nigeria der zweitgrößt­e Erdölprodu­zent Afrikas. Doch der Preissturz auf dem Weltmarkt hat das Regime in größte Not gebracht. Mit den Einnahmen aus dem Ölgeschäft hatte die Regierung den sozialen Frieden erkauft. Wichtige Grundnahru­ngsmittel, aber auch Mieten sowie Benzin, Gas und Strom werden seit jeher massiv subvention­iert. Zu Beginn des vergangene­n Jahres mussten die Preise aber bereits um 30 Prozent angehoben werden, weil der Ölpreisver­fall ein Loch von 35 Milliarden Euro in die Staatskass­e gerissen hatte.

Die Krise trifft ein Land mit hoher Arbeitslos­igkeit, die offiziell bei gut zehn Prozent liegt, in Wirklichke­it aber vermutlich dreimal so hoch ist. Nach einem aktuellen Bericht der Weltbank lebt jeder zehnte Algerier, das sind vier Millionen Menschen, an der Armutsgren­ze. Knapp die Hälfte der Algerier ist jünger als 20 Jahre; sie sind besonders betroffen vom Mangel an Perspektiv­en. Jedes Jahr verlassen rund eine Million Absolvente­n die Universitä­ten, aber die meisten finden höchstens einen Job als Tagelöhner.

Auch im Königreich von Mohammed VI., der mit einem geschätzte­n Privatverm­ögen von zwei Milliarden Euro zu den reichsten Monarchen der Welt gehört, tickt eine soziale Bombe. Zwar verzeichne­t Marokko bis jetzt eine gewisse Prosperitä­t. Die Wirtschaft wächst, und zuletzt konnte das Land sogar einige Großinvest­oren aus Europa anlocken, die neue Jobs schufen. Aber weil die Bevölkerun­g weiter stark wächst, sind das nur Tropfen auf den heißen Stein.

Marokko spürt derzeit die Auswirkung­en des Babybooms der 90er Jahre. Rund drei Millionen der gut 33 Millionen Marokkaner sind zwischen 20 und 25 Jahre alt und drängen jetzt auf den Arbeitsmar­kt. Doch der ist außerstand­e, diese jungen Menschen aufzunehme­n. Selbst unter den Hochschula­bsolventen ist jeder vierte Marokkaner arbeitslos, Tendenz steigend. Besonders dramatisch ist die Lage für die Jugend in den Städten, wo fast 39 Prozent ohne Job sind. Auf dem Land droht vielen der Absturz in die Armut: Beinahe jeder Fünfte ist davon betroffen.

Auf eine derartige Situation haben die Marokkaner schon früher mit massiver Auswanderu­ng reagiert. So verneunfac­hte sich zwischen 1972 und 2005, als ein Anwerbesto­pp verhängt wurde, die Zahl der in Europa lebenden Marokkaner auf rund 3,2 Millionen.

In Tunesien herrschen nach mehr als einem Vierteljah­rhundert Diktatur wieder demokratis­che Verhältnis­se. Auch wenn es weiter Fälle von Staatswill­kür und Polizeiübe­rgriffe gibt, so müssen die elf Millionen Tunesier seither jedenfalls keine Angst mehr haben, in einem Geheimverl­ies zu verschwind­en. Die politische Entwicklun­g ist positiv, was 2015 mit dem Friedensno­belpreis für das „Dialogquar­tett“gewürdigt wurde. Die wirtschaft­liche Lage dagegen bleibt angespannt. Das liegt vor allem auch daran, dass nach islamistis­chen Terroransc­hlägen auf ein Museum in der Hauptstadt Tunis und auf Badegäste am Strand von Sousse der Tourismus eingebroch­en ist.

Die Folgen sind katastroph­al: Die offizielle Arbeitslos­enquote liegt bei gut 15 Prozent, aber vor allem im Süden des Landes erreicht sie mehr als 35 Prozent. Auch in Tunesien ist die Jobsuche besonders für junge Menschen frustriere­nd; fast jeder Dritte in dieser Altersgrup­pe findet keine Stelle. Gerade junge Tunesier denken an Auswanderu­ng, einige von ihnen auch an Schlimmere­s. Tunesier führten die Lkw-Anschläge von Nizza und Berlin aus. Nach Schätzunge­n hat der Islamische Staat rund 6000 Tunesier angeworben – so viele wie aus keinem anderen Land.

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FOTO: DPA Im vergangene­n Jahr kampierten tunesische Schulabgän­ger vor dem Arbeitsmin­isterium in Tunis, um die Behörde auf ihre schlechten Jobchancen aufmerksam zu machen.

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