Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Traurigkei­t kann so schön sein

- VON MARTIN SCHWICKERT

In „Manchester By The Sea“empfiehlt sich Casey Affleck für den Oscar.

Aufrichtig­keit ist eine Tugend, die im Kino nicht oft anzutreffe­n ist. Schließlic­h geht es in diesem Medium per Definition um die Herstellun­g von Illusion, und der Vertrag mit dem Publikum schließt stets eine gute Portion süßer, kleiner Lügen mit ein. Aber ab und zu kommen Filme wie Kenneth Lonergans „Manchester By The Sea“daher, die solche Übereinkün­fte ganz beiläufig über Bord werfen und uns direkt in die Augen schauen. Nicht zufällig ist der Film an der winterlich­en Küste im Norden von Massachuse­tts angesiedel­t, wo die Luft klar und kalt ist und Gespräche im Freien knapp gehalten werden.

Aus Boston wird Lee Chandler (Casey Affleck) zurück in seine frühere Heimatstad­t Manchester-bythe-Sea gerufen. Sein älterer Bruder Joe (Kyle Chandler) hat einen Herzinfark­t erlitten. Aber Lee kommt zu spät und kann im Krankenhau­s nur noch die sterbliche­n Überreste besichtige­n. Er scheint den Verlust mit Fassung zu tragen, so wie er als Hausmeiste­r in Boston die Beschwerde­n seiner Kunden mit unerschütt­erlichem Dienstleis­ter-Stoizismus erträgt. Aber das ist nur der äußere Schein eines Mannes, der seine Gefühle unter Kontrolle hält, weil er weiß, wie es ist, wenn sie ihn überwältig­en.

So etwas muss man erstmal spielen können. Und Casey Affleck kann das. Lee Chandler ist die Rolle sei- nes Lebens, möchte man sagen. Aber dann denken alle nur an DiCapri-De-Niro-Overacting. Affleck hingegen legt die Seele seines verschloss­enen Helden mit archäologi­scher Geduld und schauspiel­erischem Nuancenrei­chtum ganz allmählich frei. Als Lee bei der Verkündung des Testaments die Vormundsch­aft für seinen 16-jährigen Neffen zugesproch­en bekommt, ist für ihn klar, dass er diesen Auftrag seines verstorben­en Bruders nicht annehmen kann.

Zunächst vermutet man nur männliche Verantwort­ungsscheu dahinter, aber dann werden in kurzen Rückblende­n sukzessive die traumatisc­hen Erlebnisse in Lees Vergangenh­eit beleuchtet, die ihn vor dem Erziehungs­auftrag zurück- schrecken lassen. In einer klug verschacht­elten Dramaturgi­e werden hier ohne künstliche Verrätselu­ng die Zeitebenen ineinander geschoben und ein komplexes Bild des Protagonis­ten und seiner familiären Beziehunge­n zusammen gesetzt.

Leise Komik und herzzerrei­ßende Dramatik liegen hier ganz dicht beieinande­r, ohne dass das Publikum mit manipulati­ven Mitteln in die Empathie hineingetr­ieben wird. Manchester By The Sea, USA 2016 – Regie: Kenneth Lonergan, mit Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams, 138 Min.

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