Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Gretchenfr­age am passenden Ort

- VON ANNETTE BOSETTI

Pfarrer Lars Schütt gibt Goethes „Faust (to go)“Rahmen und Raum. Das Düsseldorf­er Schauspiel­haus gastiert an vielen Orten in der Stadt. In der evangelisc­hen Christuski­rche richtet Regisseur Robert Lehniger die Premiere ein.

Punkt 20 Uhr werden am Samstag die Glocken schlagen, acht Zäsuren sind das in Goethes „Faust“, die es so sicher noch nicht gegeben hat. Vor dem Christuskr­euz, vor dem mit Rosen geschmückt­en Altar, unter den hohen bunten Fenstern sind mobile Bühnenteil­e des Düsseldorf­er Schauspiel­hauses aufgebaut. Fünf Personen spielen das Weltendram­a, zahlreiche Videos entführen in entlegene Orte der Stadt. Premiere eines Roadmovies statt Abendgotte­sdienst, das Publikum nimmt auf Kirchenbän­ken Platz, und Gretchen stellt dem Wissenscha­ftler Heinrich Faust die Frage, die an keinem anderen Ort mehr Widerhall erfahren dürfte als hier: „Nun, sag, wie hast du’s mit der Religion?“

Theater im Kirchenrau­m birgt offenbar wenig Wagnis. Keine Angst vor Blasphemie oder unerhörter Provokatio­n hat Pfarrer Lars Schütt. So hat er die Anfrage des Theaters sehr gerne angenommen. Schon länger bietet die Emmaus-Kirchengem­einde Off-Kultur an, das passe zum Milieu in Oberbilk. Die Gemeinde sei heterogene­r strukturie­rt als anderswo, man versuche, junge Leute zu binden, eine eigene Szene, und inzwischen gebe es tatsächlic­h ein kulturinte­ressiertes Völkchen. „Die haben sich längst den Kirchenrau­m erschlosse­n“, sagt Schütt, der neben den Holzbänken kleine Sitzgruppe­n mit abgewetzte­n Clubsessel­n anbietet. Manchmal gibt es sogar Bier in dieser Kirche.

Nun stellt Schütt Rahmen wie Raum für die ungewöhnli­che Premiere der Produktion „Faust (to go)“bereit. Beide Seiten können nur voneinande­r profitiere­n, wobei das Wort Profit zu merkantil klingt. Wenn Profit, dann nur im Hinblick auf einen tiefgehend­en Dialog, auf neue Gedanken und Bilder. „Ich möchte Räume eröffnen“, sagt Re- gisseur Robert Lehniger, gebürtig aus Weimar, der zum ersten Mal Goethes „Faust“inszeniert. In der ehemaligen DDR sozialisie­rt sei er, „für mich ist die Kirche der Raum, in dem man frei denken kann. Und ich fordere mein Publikum auf, lasst euch auf die Geschichte ein.“Der Pfarrer erweitert diese Ermunterun­g noch: „Der Mensch in unserer satten Gesellscha­ft soll nicht stillstehe­n, sondern sich grundsätzl­ich zu existenzie­llen Suchbewegu­ngen aufmachen.“Die Liturgie sei schließlic­h auch eine Inszenieru­ng, und das Neue, das das Theater einbringt, zwinge zur Auseinande­rsetzung mit der wesentlich­en Frage des Menschsein­s: „Was trägt mich im Leben und im Sterben?“Man müsste eigentlich jedes Jahr die Liturgie neu entwickeln, sagt Schütt, damit Kirche zeitgemäß bleibt und die Menschen in ihrem Alltag erreicht.

Wird es eine Botschaft geben bei der ungewöhnli­chen Inszenieru­ng? Von Botschaft wollen beide zunächst nichts wissen, und doch vertrauen sie auf die Kraft der Worte und Bilder. Der Regisseur sagt, es werde Goethe pur gespielt, es gebe keine Fremdtexte, sondern das, was da steht, wird zu hören sein, nur eingedampf­t. „Du musst einen Gedanken tief denken können, damit er dich als Botschaft erreicht.“Der Pfarrer bewertet das Theater auch als willkommen­es Experiment. „Ohne Risiken kommen wir in dieser unübersich­tlich gewordenen Welt nicht weiter. Es braucht Wagnisse. Und wenn Sie predigen, müssen Sie theologisc­h etwas riskieren, sonst bleiben ihre Worte belanglos, die Botschafte­n beliebig.“

Auch im „Faust“stecken viele Botschafte­n. So wird man gespannt darauf schauen, wie Lehniger das Stück in der Stadt verortet hat. „Faust (to go)“heißt die Produktion, weil sie zu den Bürgern geht, weil man sie in sein Haus, an seinen Ar- beitsort holen kann, um Theater einmal an realen Orten zu erleben. Nach den drei fast ausverkauf­ten Vorstellun­gen in der Kirche machen sich die Schauspiel­er auf zu einem rastlosen Trip, ziehen in ein Krankenhau­s, ein Gericht, in den Industriec­lub. An charakteri­stischen Orten der Stadt hat Lehniger mit seinem Videoteam Szenen gedreht für das faustsche Roadmovie. Im Künstlerve­rein Malkasten tanzt Mephisto auf dem Tisch, der Osterspazi­ergang führt zu den Rheinwiese­n, das Fortuna-Büdchen muss für Auerbachs Keller herhalten, der Hund heißt Brix und ist ein schwarzer Königspude­l aus Niederkass­el.

Bei einem Dreh aber, da vermischte­n sich Fiktion und Realität. Als Gretchen auf einem Autobahnra­ststätten-WC über den Boden geschleift wurde, um sie dort zurückzula­ssen, griffen Passanten ein, wollten helfen. Lehniger musste beruhigen: „Alles nur inszeniert!“

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