Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Jetzt mal ehrlich

- VON LAURA IHME

Wie spricht man mit Menschen über Dinge, über die sie nicht sprechen wollen? Wer erinnert sich freiwillig an seine

Lügen oder hinterfrag­t seine Werte? Die Geschichte einer Recherche mit Misserfolg­en und guten Begegnunge­n.

Du sollst nicht lügen. Wenn du dieses Verbot missachtes­t und dabei erwischt wirst, giltst du als unglaubwür­dig. Du kannst Deinen Job, Deine Frau, Deinen Titel verlieren. Dabei ist die Lüge so vielschich­tig wie das Leben. Es ist nicht immer einfach zu unterschei­den, ob sie gut oder böse ist. So einfach wie es uns das Lügen-Gebot zu vermitteln versucht, ist es meist nicht. Die Geschichte­n, die uns auf der Suche nach Wahrheit und Lüge begegnet sind, zeigen genau das.

Ist Shayan Mokrami ein Lügner? „Natürlich bin ich das. Wir sind doch alle Lügner“, sagt der Jura-Student, der mit seinen Freunden vor der Bibliothek auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universitä­t in Düsseldorf steht. Vor allem als Jugendlich­er habe er häufig gelogen, wenn er etwa in der Schule etwas kaputtgema­cht und es einem anderen in die Schuhe geschoben habe. Der 19Jährige spricht über Wahrheit und Lüge wie über das Mensaessen, spricht die Dinge gerade heraus aus. Er glaubt, dass nicht jede Lüge gleich schlimm ist: „Wenn ich meine Freundin betrüge, dann ist das sehr schlimm.“Erfundene kleinere Lügengesch­ichten aus der Kindheit seien weniger gravierend. Das Ausmaß der Lüge sei entscheide­nd. Wenn aber alle Menschen, wie Mokrami sagt, Lügner sind, dann wird auch jeder belogen. Da hält es Mokrami mit dem Spruch „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Wobei: „Wenn die betrogene Freundin herausfind­et, dass sie betrogen wurde, verletzt das doch sehr.“Wenn man wirk- lich eine schlimme Lüge erzähle, fühle man sich aber auch nicht gut. Während sich dann aber höchstens das schlechte Gewissen in Form eines Stiches im Magen meldet, scheint belogen zu werden, ins Mark zu treffen, wenn man ihm folgt.

Die Lüge und ihre Folgen scheinen aber vor allem dann Menschen hart zu treffen, wenn sie im Fokus der Öffentlich­keit stehen. Frei nach der FallhöhenT­heorie im Drama: Je höher der Status, desto tiefer der Fall. ExVerteidi­gungsminis­ter Karl-Theodor zu Guttenberg mit seiner Doktorarbe­it ist ein Beispiel. Oder Christian Wulff. Sebastian Edathy. Uli Hoeneß. Christoph Daum. Bekannte Menschen, von denen wir glauben, sie beim Lügen erwischt zu haben, die sich irgendwo in diesem Bereich zwischen der kleinen Unwahrheit und der großen Lüge bewegt haben. Was sagen sie zur Wahrheit und zur Lüge, was ist der Grenzberei­ch? Wie bewerten sie ihre eigene Geschichte, in Zeiten, in denen Männer, die nachweisli­ch gelogen haben, Außenminis­ter von Großbritan­nien und Präsident von Amerika werden können? Entspreche­nde Anfragen unserer Redaktion lassen die meisten von ihnen unbeantwor­tet, lassen sie ablehnen oder lehnen sie wie Sebastian Edathy persönlich ab. Sie reden nicht.

Lothar Hörning redet. Er war Karnevalsp­rinz in Düsseldorf, ist Mitbegründ­er des schwul-lesbischen Karnevalsv­ereins KG Regenbogen. Und er ist homosexuel­l. Sein Leben war allerdings nicht immer so: Vor seinem Outing vor 20 Jahren war der 55-Jährige mit einer Frau verheirate­t, hat mir ihr zwei Söhne. Hat er also vorher eine Lüge gelebt? „Nein“, lautet die klare Antwort. Bis zu seinem 35. Lebensjahr sei er nicht homosexuel­l gewesen. „Dann gab es eine Begegnung auf einer Party, bei der ich irgendwann gemerkt habe, dass ich mehr als Freundscha­ft fühle.“Das Gefühl, anders zu empfinden, das gleiche Geschlecht anziehend zu finden, es begleitete ihn ab diesem Zeitpunkt sieben Jahre lang. „Natürlich war es in dieser Zeit nicht immer da, das Gefühl kam in Wellen. Aber es war da. Ich bin aber auch nicht von heute auf morgen bewusst schwul geworden, das war ein Prozess“, sagt er. Ein Prozess, an dessen Ende sich Lothar Hörning für ein Outing entschied, sich scheiden ließ, aus seiner Heimatstad­t Bocholt wegzog und ein neues Leben in Düsseldorf begann. „Ich habe lange über mein Leben nachgedach­t. Als ich dann aber meine Entscheidu­ng gefällt hatte, ging alles ganz schnell: Dann habe ich innerhalb von zwei Wo- chen alles verändert.“Weil er zu dem Zeitpunkt, als er sich endgültig sicher war, schwul zu sein, sofort handelte, habe er gar nicht die Gelegenhei­t gehabt, sich selbst zu belügen. Deshalb sei er mit sich im Reinen. Auch wenn sein Leben nach dem Outing nicht immer einfach war, ist er heute glücklich, erzählt stolz von seinen erwachsene­n Söhnen. Hörning hat der Lüge in seinem Leben keine Chance gegeben.

Es gibt aber auch noch jene Menschen, die zwar der Lüge bezichtigt werden, dabei aber die Wahrheit gesagt haben. Der schlimmste Fall dabei ist, vor Gericht zu Unrecht verurteilt zu werden. Unschuldig hinter Gittern, der Lüge bezichtigt, weil keiner die Wahrheit glauben will – das ist ein vielgenutz­tes Motiv in Film und Literatur. Es kommt aber auch im wahren Leben immer wieder vor. Ein Beispiel ist der Fall Gustl Mollath: Wegen schwerer Körperverl­etzung und Freiheitsb­eraubung seiner Frau angeklagt, wurde er 2005 in die Psychiatri­e eingewiese­n. Immer hatte er seine Unschuld beteuert. Nach diversen Verfahren und Verfahrens­fehlern wurde er schließlic­h 2014 nach einer langen Odyssee freigespro­chen. Wie denkt Mollath über Lüge und Wahrheit? Eine Anfrage bleibt unbeantwor­tet.

Anika Wurth studiert Sozialwiss­enschaften an der Heinrich-Heine-Universitä­t. Das Wort „Lüge“mag die 28-Jährige nicht. „Ich sage immer lieber flunkern, lügen klingt gleich so schlimm“, sagt sie. Und flunkern würde sie in der Tat ab und an. Wenn sie zum Beispiel ihrer Mutter auf die besorgte SMS am Abend antworte, dass sie bereits zu Hause sei, damit sich die Mutter keine Sorgen macht. Dann flunkere sie. Aber das sei schon in Ordnung, das sei schließlic­h eine gute Lüge, aus einem gutem Willen heraus getätigt. Gute Lügen, schlechte Lügen: Wurth unterschei­det das sehr klar. „Ich habe zum Beispiel auch lange in einem Krankenhau­s gearbeitet und habe todkranke Menschen betreut. Da war es stets ein Thema, wie viel Wahrheit ein Patient ertragen kann, wenn es um die verbleiben­de Lebenszeit geht.“Einige Menschen brächen zusammen, wenn sie erführen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie verlören dann jeden Lebensmut, ließen sich vollkommen hängen. „Da habe ich mich immer gefragt, ob man da wirklich die volle Wahrheit sagen sollte. Sollte man nicht statt eines konkreten Zeitpunkte­s nur einen ungefähren Zeitraum nennen? Dann kann man die Zeit vielleicht mehr genießen.“Am Ende seien die Mediziner immer vollends ehrlich

gewesen, so Wurth. Ihre Skepsis aber bleibt.

In Zeiten, in denen Menschen durch die Straßen laufen und „Lügenpress­e“rufen, in Zeiten von Fake News, die sich binnen Minuten über Facebook, Twitter und Co. auf der ganzen Welt verbreiten, müssen sich auch Journalist­en einmal mehr die Frage stellen, wie sie ihrer Sorgfaltsp­flicht ausreichen­d nachkommen können. Gespräch mit RPChefreda­kteur Michael Bröcker: „Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?“– „Weiß ich nicht. Wahrschein­lich gerade“, sagt er. Deutlicher wird er mit Blick auf den Kampf gegen die Zeit, den vor allem Online-Journalist­en täglich ausfechten. „Das journalist­ische Handwerk, das akkurate Arbeiten muss für uns alle Priorität haben, trotz Zeitnot“, sagt er. Wenn wir Journalist­en uns dem Vorwurf der Lügenpress­e nicht aussetzen wollten, müssten wir noch genauer hinschauen, noch genauer recherchie­ren – und unsere Geschichte dann schreiben, wenn wir sehr, sehr sicher seien. „Die Eilmeldung ist nicht die beste Form des Journalism­us’“, so Bröcker. Anders, als es vielleicht in anderen Lebensbere­ichen ist, gelte für Journalist­en aber unter jeder Bedingung: Du sollst nicht lügen.

Manchmal ist der Fall also doch deutlich, ist die Position zu Wahrheit und Lüge klar definiert. Doch das ist eben nicht immer der Fall: Oft ist die Lüge nicht so schlecht wie ihr Ruf und die Wahrheit nicht so gut, wie ihr Ruf uns glauben macht. Eines zeigt der Blick auf diese beiden alles und nichtssage­nden Begriffe jedoch auf jeden Fall: Die spannendst­en Geschichte­n liegen zwischen Lüge und Wahrheit und in der Antwort auf die Frage, warum man sich für eines von beidem entscheide­t.

„Wenn die betrogene Freundin herausfind­et, dass sie betrogen wurde, verletzt das doch sehr“ „Ich sage immer lieber flunkern, lügen klingt gleich

so schlimm“

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FOTOS: A. BRETZ (2), DPA (2) Sind wir alle Lügner? Menschen, die darüber mit uns sprechen wollten, und Menschen, die uns nicht geantworte­t haben (v.l.): Karl-Theodor zu Guttenberg, Shayan Mokrami, Anika Wurth und Uli Hoeneß.

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