Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Frag doch mal das Volk

- VON MARTIN BEWERUNGE

Frage chostet nüt – Wie keine andere Nation hat die Schweiz diese Redewendun­g zum Prinzip erhoben. Die Eidgenosse­n verfügen neben Liechtenst­ein über das am weitesten ausgebaute direktdemo­kratische Instrument­arium. Nirgendwo sonst ist die Entscheidu­ng von Bürgern so oft gefragt wie in der Schweiz.

Sich ausgedacht – und abgelehnt – haben die Schweizer unlängst etwa die eidgenössi­sche Volksiniti­ative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstr­afe“, die die Gleichstel­lung der Ehe von homo- und heterosexu­ellen Paaren beenden sollte, oder die eidgenössi­sche Volksiniti­ative „Für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen“. Angenommen hingegen wurden die Initiative­n „Gegen den Bau von Minaretten“und „Gegen Masseneinw­anderung“.

Das Besondere an direkter Demokratie, wie sie in der Alpenrepub­lik praktizier­t wird, ist ihre Unabhängig­keit von Wahlen. Politische Entscheidu­ngsverfahr­en können mit Hilfe von Volksabsti­mmungen jederzeit in Gang gesetzt werden. Direktdemo­kratie ist in diesem Fall keineswegs das Gegenmodel­l einer repräsenta­tiven Demokratie, weshalb die präzisere Bezeichnun­g „halbdirekt­e Demokratie“heißen müsste. Immerhin aber fließt über Volksabsti­mmungen der Bürgerwill­e in den parlamenta­rischen Prozess unmittelba­r mit ein.

Somit geht direkte Demokratie über das verbreitet­e Verfahren hinaus, bei dem Politiker stellvertr­etend für ihre Wähler alle relevanten Entscheidu­ngen treffen sollen. Dem mag die Erfahrung zugrunde liegen, dass politische­s Personal zwar nie ohne Agenda antritt, Parteiprog­ramme jedoch selten die Mühlen des Politikbet­riebs unbeschade­t überstehen und manch flammend vorgetrage­nes Vorhaben wieder kassiert werden muss, weil ein Koalitions­partner nicht mitmacht oder die erforderli­che Zweidritte­lmehrheit nicht zustande kommt. Da eröffnen Referenden, Volksbegeh­ren und Plebiszite den Bürgern die Möglichkei­t, inhaltlich­e Sachfragen selbst zu beantworte­n und die Politik mit der Umsetzung ihrer Entscheidu­ng zu beauftrage­n.

Was kann es also Erstrebens­werteres geben, als Volkes Stimme solches Gewicht zu verleihen? Zumal in der Schweiz seit 1848 jede vom Parlament beschlosse­ne Verfassung­sänderung ebenfalls durch eine Volksabsti­mmung gebilligt werden muss. Ist direkte Demokratie damit nicht politische Bildung pur? Ein Allheilmit­tel gegen die um sich greifende Politikver­drossenhei­t, weil sich die Menschen mehr interessie­ren, sich besser informiere­n und am Ende eher bereit sind, die Folgen von Entscheidu­ngen zu akzeptiere­n, weil es ja die ihren sind? Und außerdem: „Frage chostet ja nüt.“

So stellen es jedenfalls die Befürworte­r direktdemo­kratischer Instrument­e dar. Allerdings: Abgesehen von geschätzte­n Kosten von elf bis zwölf Millionen Euro pro Urnengang (40 davon in einer Legislatur­periode sind keine Seltenheit) können Volksabsti­mmungen die Schweiz teuer zu stehen kommen. Das Ja zur Zuwanderun­gsbegrenzu­ng 2014 ist dafür ein Paradebeis­piel: Es hat nicht nur Studenten einstweile­n die Teilnahme am Erasmus-Programm gekostet. Nicht wenige Politiker und Unternehme­r unter den Eidgenosse­n machte die Entscheidu­ng zum Leidgenoss­en: Der Erklärungs­bedarf gegenüber Unternehme­n, die sich für einen Standort in der Schweiz interessie­ren, sei beträchtli­ch gestiegen, heißt es.

50,3 Prozent der Schweizer hatten für diese Initiative gestimmt, die nach dem Brexit beinahe einen „Schwexit“heraufbesc­hworen hätte. Denn obwohl die Schweizer nicht Mitglieder der Union sind, haben sie vollen Zugang zum EU-Binnenmark­t. Im Gegenzug müssen sie Bürger aus der EU bei sich wohnen und arbeiten lassen.

Hätte die Regierung in Bern den Auftrag des Volkes am Ende nicht trickreich abgeschwäc­ht, hätten harsche Konsequenz­en gedroht: Durch eine „Guillotine-Klausel“wären Abkommen über Verkehr, Landwirtsc­haft, Zusammenar­beit in Wissenscha­ft und Technologi­e automatisc­h hinfällig geworden. Man ahnt, wie schwierig es würde, verfügten eng in EU und Nato eingebunde­ne Länder über ähnlich direktdemo­kratisch geprägte Entscheidu­ngsmechani­smen.

Bemerkensw­ert: In Umfragen befand eine Mehrheit der Schweizer anschließe­nd, die Verträge mit der EU seien wichtiger als die Umsetzung des Volksentsc­heids. Und es dauerte nicht lange, da forderte die Initiative „Raus aus der Sackgasse“, das Votum umzukehren.

„Frage chostet nüt“– das trifft dann wohl am ehesten auf jene zu, die solche

Es ist kein Zufall, dass Populisten Volksabsti­mmungen

fabelhaft finden

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FOTO: DPA

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