Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die Diamanten von Nizza
010 wurde ein Juwelengroßhändler in der Nähe von Marseille um Diamanten in Höhe von sieben Millionen Euro erleichtert. Und 2013 verschwanden Diamanten im Wert von einer Million Euro aus dem Safe eines Hotelzimmers in Cannes, ein Diamantcollier bei einer Celebrity-Party während der Filmfestspiele in Cannes im Wert von zwei Millionen Euro und, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, Juwelen mit einem Schätzwert von 103 Millionen Euro, die in der – offenkundig etwas zu leichtsinnig angesetzten – Ausstellung „Außergewöhnliche Diamanten“gezeigt wurden, abermals in Cannes. Die Diebe legten offenbar Wert auf eine stilvolle Umgebung mit hohem Freizeitwert. Elena schüttelte fassungslos den Kopf, als sie den Aktenordner beiseitelegte. So viel Geld für Bruchstücke eines Minerals, das in einem Zeitungsartikel als „metastabile allotrope Kohlenstoffmodifikation“beschrieben wurde.
Was Elena selbst betraf, so beschränkte sich ihre Liebe zum Schmuck auf mexikanisches Silber und altes Gold. Sie hatte viel zu viele Diamantketten an den faltigen Truthahnhälsen weiblicher Prominenter in fortgeschrittenem Alter gesehen, ein mitunter erschütternder Anblick, der ihr den Diamantenneid gründlich ausgetrieben hatte. Wie sie Sam, der ihre Zurückhaltung in diesem Punkt aufrichtig zu schätzen wusste, einmal anvertraute, würde sie ein solches Vermögen eher in etwas von praktischem Nutzen investieren, beispielsweise in ein kleines Stadtpalais in Paris und in einen Bentley. Oder in das idyllische Feriendomizil, das sie bei ihrem letzten Besuch in Marseille in Augenschein genommen hatten. Ein Freund von Francis Reboul hatte sie darauf aufmerksam gemacht: Ein kleines Haus, Anfang der 1920er-Jahre erbaut, auf einem Felssporn thronend. Sie und Sam hatten sich auf Anhieb darin verliebt. Schon allein der Blick auf das Mittelmeer war von großem Reiz. Es war nur einen Katzensprung von Rebouls Anwesen Le Pharo entfernt, zu Fuß über einen malerischen Pfad zu erreichen, und noch kürzer war der Weg zu den kulinarischen Köstlichkeiten von Le Petit Nice, dem mit drei MichelinSternen höchst dekorierten Gourmettempel in Marseille.
Die Preisvorstellung für das Haus belief sich, wie Sam herausgefunden hatte, auf eine Summe, die einem Milliardär die Tränen in die Augen getrieben hätte. Aber sie mussten es haben, koste es, was es wolle. Sam hatte seine sogenannte schwarze Kasse geplündert, Elena hatte ihre Wertpapiere verkauft, und dann konnten die Langstreckenverhandlungen zwischen L. A. und dem Anwalt der Besitzerin in Marseille beginnen. Die sich jedoch als Verhandlungsmarathon erwiesen. Und endlos fortgesetzt wurden. Das Problem war, dass die Besitzerin, eine 75-jährige Witwe aus Paris, es für nötig erachtet hatte, das Einverständnis ihrer weitläufigen Familie bezüglich des Verkaufs einzuholen. Die Kinder mussten zu Rate gezogen und die Interessen der Enkel berücksichtigt werden. Selbst Cousins, die nach französischem Recht nur einen entfernten Anspruch auf den Verkaufserlös hatten, ließen sich nicht gänzlich ignorieren. Die Vorschläge und Gegenvorschläge wechselten zwischen den Familienmitgliedern so lange hin und her, bis Elena und Sam kurz davor waren, das Handtuch zu werfen.
In der vergangenen Woche war schließlich ein Hoffnungsschimmer am Horizont aufgetaucht. Der Anwalt der Eigentümerin hatte geschrieben: Es sei möglich, die Transaktion endlich abzuwickeln, sobald die erwartete schriftliche Zusicherung der Familie vorlag, dass der Verkauf keine juristischen Komplikationen nach sich ziehen würde. Sam hatte Reboul angerufen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen, und dieser war einverstanden, sich mit dem Anwalt in Verbindung zu setzen, um die leidige Angelegenheit doch noch über die Bühne zu bringen. Das war der augenblickliche Stand der Dinge, vielversprechend, aber ungelöst.
Elenas Gedanken wanderten von dem Haus auf dem Felsensporn zu ihrer beruflichen Zukunft. Ein eigenes Haus in Marseille, wie idyllisch es sein mochte, war für jemanden, der an ein Versicherungsbüro in Los Angeles gebunden war, um sein täglich Brot zu verdienen, kaum von Nutzen. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie lange sie ihre Tätigkeit noch ausüben wollte, auch wenn sie hervorragend bezahlt wurde. In den letzten beiden Jahren war sie mehrmals drauf und dran gewesen, eine Kündigung einzureichen, doch die Loyalität Frank Knox gegenüber hatte sie davon abgehalten. Er war ein anständiger Chef, also ein Unikum. Nun aber, da er in den Ruhestand gehen würde, konnte sie ihre Zelte im Unternehmen mit gutem Gewissen abbrechen. Ja, dachte sie, Franks Rückzug ins Privatleben war eindeutig ein Zeichen, die Initiative zu ergreifen. Sie schloss die Augen und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, um sich ihren Träumen von ei- nem Leben mit Blick auf das azurblaue Mittelmeer hinzugeben.
2. KAPITEL
Ariane Duplessis, Leiterin der Pariser Niederlassung von Knox, stand im Empfangsbereich des Bürokomplexes und begrüßte Elena mit zwei routinierten Luftküssen und einer angemessen ernsten Miene.
„Gut, dass Sie so schnell herkommen konnten. Dann wollen wir mal – die anderen sind bereits im Konferenzraum.“
Während sie Madame Duplessis den Gang entlang folgte, musterte Elena die schlanke Gestalt vor ihr: dichtes, modisch geschnittenes graues Haar, ein langer, cremefarbener Seidenschal, lässig über der Schulter drapiert, dunkelgraues Flanellkostüm, High Heels. Das Geschäft mochte den Bach hinuntergehen, dachte Elena, aber der Erhalt eines hohen Maßes an Schick und Eleganz blieb in Frankreich oberstes Gebot. Die Besprechung drohte lang und bedrückend zu werden.
Am Konferenztisch hatten drei Männer Platz genommen, die mit gewichtiger Miene ihre Laptops vor sich aufbauten.
„Schießen Sie los“, eröffnete Elena das Gespräch. Es reizte sie, die Staatsbegräbnisstimmung mit burschikosem Auftreten zu durchbrechen. „Das Schlimmste zuerst.“
Die Herrschaften rümpften kurz die Nase, bevor sie in nicht ganz akzentfreiem Englisch Bericht erstatteten. Allem Anschein nach hatten die Castellacis ihren Versicherungsbeitrag immer pünktlich bezahlt, was jedwede Hoffnung zunichtemachte, ihre Police für ungültig zu erklären. (Fortsetzung folgt)