Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Einige Ärzte sind zu freigiebig bei Antibiotik­a“

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Der Chef der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g kritisiert auch den Missbrauch des Notdienste­s. Er fordert mehr Eigenbetei­ligung der Patienten.

AACHEN Viele Jahre hat Frank Bergmann als niedergela­ssener Neurologe und Psychiater in Aachen gearbeitet. Seit 1. Januar ist er Chef der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g (KV) Nordrhein und sorgt unter anderem dafür, dass die Versorgung mit niedergela­ssenen Ärzten und Psychother­apeuten gut bleibt. Ärzte hier klagen seit Jahren, dass sie schlecht bezahlt werden. Zu Recht? BERGMANN Völlig zu Recht. Ärzte in anderen Bundesländ­ern bekommen für gleiche Tätigkeite­n deutlich mehr Geld. So stellen die Krankenkas­sen in Mecklenbur­g-Vorpommern im Jahr rund 404 Euro pro Kassenpati­enten für dessen ambulante Versorgung zur Verfügung, in Nordrhein sind es nur etwa 329 Euro. Wir werden dafür kämpfen, dass diese Lücke geschlosse­n wird. Woher kommen die Unterschie­de? BERGMANN 2008 wurde bundesweit das Honorarsys­tem umgestellt mit der kuriosen Folge, dass die Ärzte in Nordrhein für ihre zuvor wirtschaft­liche Arbeit bestraft wurden. Unter den Folgen leiden wir bis heute. Es drohen neue Schnitte: SPD, Grüne und Linke wollen die private Krankenvol­lversicher­ung abschaffen. Was heißt das für Ärzte? BERGMANN Davon halte ich nichts. Die private Krankenver­sicherung ist Innovation­sträger. Viele neue Diagnostik- und Behandlung­sverfahren werden zuerst von ihr finanziert, bis die gesetzlich­en Kassen nachziehen. Zudem subvention­ieren in vielen Praxen die Privatpati­enten die Kassenpati­enten quer. Ohne Privatpati­enten würden noch mehr Praxen schließen als bisher. In den Großstädte­n ist von Unterverso­rgung nichts zu spüren. BERGMANN Das sehen Patienten anders, die teilweise Wochen auf einen Termin bei bestimmten Fachärzten warten müssen. Das von Kassenseit­e geäußerte Credo, in Städten herrsche eine Überversor­gung an Ärzten, stimmt so nicht. Denn Zentren versorgen das Umland mit. Und in Zukunft droht sogar Unterverso­rgung. Jeder dritte Hausarzt in Nordrhein ist über 60 Jahre alt. Es ist absehbar, dass sie Nachfolger suchen. Bis zum Jahr 2030 brauchen wir im Rheinland 5000 neue Hausärzte. Auch bei Augenärzte­n, Urologen und Neurologen droht ein Mangel. Wir als KV stehen vor der großen Herausford­erung, die ambulante Versorgung in Zukunft mit deutlich weniger Ärzten sicherzust­ellen. Vor allem in ländlichen Regionen wird das schwierig. Hilft nicht die Landarzt-Prämie ? BERGMANN Wegen einer einmaligen Prämie oder eines monatliche­n Honorarzus­chlages geht kein Arzt aufs Land. Das ist Schaufenst­erpolitik. Wichtig für junge Ärzte sind weiche Faktoren: Findet der Partner auf dem Land einen Job? Gibt es Schulen für die Kinder und welche Infrastruk­tur gibt es vor Ort? Als KV-Chef will ich dafür sorgen, dass mehr Ärzte als bisher den Sprung in die Selbststän­digkeit wagen. Wie? BERGMANN Wir werden unsere Kapazitäte­n bei der Weiterbild­ungsförder­ung von Ärzten weiter ausbauen und angestellt­en Medizinern durch Beratung und Paten-Programme die Angst vor der Selbststän­digkeit nehmen. Auch der Abbau von Bürokratie gehört dazu. Zugleich müssen wir dafür sorgen, dass der Beruf finanziell attraktiv bleibt. Selbststän­dige arbeiten deutlich mehr als angestellt­e Ärzte, an der Spitze liegen selbststän­di

ge Kinderärzt­e, die 70 Pro- zent mehr arbeiten. Dieser Einsatz muss auch honoriert werden. Ein anderes Problem in Nordrhein ist die starke Verschreib­ung von Antibiotik­a. Woran liegt das? BERGMANN Antibiotik­a werden primär von Kinderärzt­en und Hausärzten verschrieb­en. Bei der Anzahl an verordnete­n Dosen je 1000 Versichert­e und Tag liegt Nordrhein im Bundesverg­leich an dritter Stelle. Teilweise liegt das an chronische­n Grunderkra­nkungen und dem industriel­len Erbe. Beide Faktoren können Erkrankung­en der Atemwege begünstige­n, bei denen häufig auch Antibiotik­a verschrieb­en werden. Teilweise sind Ärzte aber auch zu freigiebig – auch, weil Patienten Druck machen. Das wollen wir ändern. Wie? BERGMANN In mehreren Aufklärung­skampagnen sensibilis­ieren wir Ärzte und Patienten für die Gefahren großzügige­r Antibiotik­a-Gaben. Diese erhöhen das Risiko multiresis­tenter Keime, gegen die es kein Mittel mehr gibt. Auch Patienten müssen lernen, dass Antibiotik­a gegen Virenerkra­nkungen nicht helfen und man diese auch mal zehn Tage auskuriere­n muss. Fordernde Patienten werden auch in Notfallpra­xen zum Problem. BERGMANN Die Zahl der Patienten, die den ärztlichen Notdienst in Nordrhein in Anspruch nehmen, steigt stetig an: Im Jahr 2010 waren es rund 2,4 Mio. Behandlung­en, im Jahr 2015 gab es insgesamt schon über 2,6 Mio. Behandlung­en – und das nur in Nordrhein. Allerdings ist längst nicht jeder, der den Notdienst aufsucht, auch ein medizinisc­her Notfall. Manche finden es bequemer, am Wochenende zum Arzt zu gehen und vor allem in Krankenhäu­sern gleich eine Auswahl von Fachärzten zu haben. Das ist schlecht und blockiert Kapazitäte­n für die echten Notfälle. Der ungehinder­te Zugang zur medizinisc­hen Versorgung fördert leider eine Art „Flatrate-Mentalität“bei ärztlichen Leistungen. Vielleicht sollte man die Praxisgebü­hr wieder einführen. BERGMANN Die Praxisgebü­hr hat den Ärzten viel Bürokratie beschert und brachte wenig, am Ende war fast jeder zweite Patient von ihr befreit. Doch statt die Gebühr abzuschaff­en, hätte man sie reformiere­n sollen. Eine Eigenbetei­ligung schärft das Kostenbewu­sstsein der Patienten. Das habe ich in Belgien erlebt, wo ich früher eine Zweigpraxi­s betrieben habe. Wie läuft es dort? BERGMANN Das System basiert auf Kostenerst­attung. Alle Patienten erhalten eine Rechnung, die sie selbst bezahlen müssen, die Kosten bekommen sie ganz oder teilweise von ihrer Versicheru­ng erstattet. Patienten sehen so, was ärztliche Leistungen wert sind. Härtefälle sind sozial abgesicher­t. Ein Konstrukt, das ein Vorbild für Deutschlan­d sein könnte.

ANTJE HÖNING FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: KV Frank Bergmann

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